# 183 Momentaufnahme
KOORDINATEN
Frau. Mutter. Fotografin.
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Das ist das Kapitel:
Verantwortung des Blicks
Manche Fotografien brennen sich ins Gedächtnis ein. Andere verändern ihre Bedeutung, sobald sie den Ort ihrer Entstehung verlassen. Beides wirft dieselbe Frage auf: Wer trägt Verantwortung dafür, wie eine Fotografie wirkt?
Fotografien wirken – auch über ihren ursprünglichen Kontext hinaus. Das ist ihre Stärke. Und ihre Gefahr. In der heutigen Welt, in der Bilder in Sekunden um den Globus gehen, entscheidet nicht mehr allein die Fotografin über den Kontext – doch ihre Verantwortung bleibt.
Zufällig sah ich ein Interview mit dem Dramatiker Heiner Müller, in dem er eine Begebenheit schilderte: Einer Gruppe von Menschen in Afrika, fernab westlicher Medienrealität, wurden Fotografien gezeigt – Aufnahmen von der Befreiung aus deutschen Konzentrationslagern. Die Reaktion: schallendes Gelächter. Warum? Weil sie nicht glauben konnten, dass Weiße so dünn sein können. Dieser Moment zeigt, wie radikal der Kontext unsere Wahrnehmung prägt. Was hier als Dokument des Grauens verstanden wird, erzeugt andernorts Verwirrung – oder gar Komik.
Ich habe viele Jahre lang Demonstrationen, soziale Konflikte und Arbeitskämpfe fotografiert. Dabei entstanden auch Fotos, auf denen junge Menschen ihre Faust in die Luft recken – aus Wut, aus Hilflosigkeit, aus Trotz. Aus dem Zusammenhang gerissen, können solche Gesten als Gewalt gelesen werden. Oder sie tauchen später in völlig anderen Zusammenhängen wieder auf.
Darum habe ich immer sehr genau ausgewählt, welche Fotografien ich Redaktionen zur Verfügung stelle. Ich bin verantwortlich für die Wirkung meines Blicks. Für das, was sichtbar wird – und für das, was verborgen bleibt. Diese Verantwortung endet nicht mit dem Druck auf den Auslöser. Sie beginnt dort.
Ich denke dabei auch an den Film Under Fire (1983). Er spielt in den letzten Tagen der nicaraguanischen Revolution: Nick Nolte verkörpert den Fotojournalisten Russell Price. Gedreht wurde in Mexiko, inspiriert von realen Ereignissen um den Mord an dem ABC-Reporter Bill Stewart, der am 20. Juni 1979 in Managua von Somoza-Truppen erschossen wurde. Die Tat wurde gefilmt, die Bilder ausgestrahlt – ein Schock, der das Regime international diskreditierte.
Der Film zeigt den Sog eines Konflikts, der Reporter:innen von der beobachtenden Zeugenschaft in ethische Grenzbereiche zieht. Was mich traf, ist die stille, aber tödliche Logik der Bilder: Price besucht ein Rebellenlager, fotografiert, entwickelt später seine Filme im Hotelzimmer. Routinen des Handwerks. Doch die Abzüge geraten in die Hände eines Agenten des Somoza-Regimes. Er nutzt sie, um Widerständler zu identifizieren und zu ermorden.
Fotografien, gedacht als Dokumente, werden zu Listen. Gesichter werden Zielmarken. Die Fotografie, die aufklären will, wird zur Beute eines Apparats, der verfolgt und tötet. Der Film macht daraus kein Abstraktum, sondern eine Handlungskette: auslösen, entwickeln, missbrauchen. In diesem Kontinuum beginnt Verantwortung nicht erst bei der Veröffentlichung, sie durchzieht jede Phase. Vielleicht deshalb meine Strenge in der Auswahl: Ich habe Demonstrationen, Arbeitskämpfe, Gesichter fotografiert – wissend, dass Gesten und Namen wandern, Bedeutungen kippen. Under Fire hat mir eingeschrieben, was ich längst ahnte: Eine Fotografie ist nie nur Abbild. Sie kann Schutz sein oder Gefahr, Aufklärung oder Verrat. Die Verantwortung des Blicks endet nicht mit dem Druck auf den Auslöser. Sie beginnt dort – wo meine Entscheidung endet und das Bild seinen eigenen Kontext findet.