Es klingt harmlos, fast sachlich: „Wir haben natürlich im Stadtbild noch dieses Problem …“ Ein Satz, von Friedrich Merz unserem Kanzler. Doch sobald man innehält, spürt man, wie viel Geschichte in diesem Wort steckt: Stadtbild. Denn wer das Stadtbild beschwört, spricht nie nur über Architektur oder Verkehr, sondern über Wahrnehmung, Zugehörigkeit und Macht über Sichtbarkeit. Darüber, wer Teil des Gemeinsamen ist – und wer nicht.

Die Rückkehr einer Metapher

Das Wort Stadtbild ist alt. Doch seine politische Aufladung stammt aus einer anderen Zeit, mit einem anderen Namen: Joseph Goebbels.
Er schrieb 1941 in sein Tagebuch:

„Sie verderben nicht nur das Straßenbild, sondern auch die Stimmung. Berlin muß eine judenfreie Stadt werden.“

Das war keine beiläufige Bemerkung, sondern Propaganda in Reinform. Eine ästhetische Metapher – Straßenbild – wurde zur moralischen Waffe. Aus der Behauptung, etwas „verderbe das Bild“, wurde die Legitimation für Vertreibung, für Gewalt, für die Zerstörung des Menschlichen.
Wenn Friedrich Merz heute das Stadtbild als Ort des Problems benennt, ist das kein historischer Gleichklang – aber eine rhetorische Resonanz. Denn wieder wird der öffentliche Raum zum Spiegel einer vermeintlich bedrohten Ordnung. Wieder wird der Blick zum Maßstab für Moral. Wieder wird sichtbar gemacht, um auszugrenzen.

Die erfundene Zustimmung

Als Merz für seine „Stadtbild“-Äußerung kritisiert wurde, reagierte er mit einem bemerkenswerten Satz:
„Fragen Sie doch mal Ihre Töchter ….“ Damit geschieht ein sprachlicher Trick. Er beruft sich auf eine hypothetische weibliche Zustimmung, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Er schafft sich symbolisch Verbündete – „die Töchter“ – und überträgt ihnen eine moralische Autorität, die seine Aussage absichern soll. Diese „Töchter“ sind keine realen Gesprächspartnerinnen, sondern rhetorische Figuren, Platzhalter für das „gesunde Empfinden“, das sich angeblich intuitiv gegen das Fremde richtet.

So entsteht eine doppelte Verschiebung: Erstens wird der öffentliche Raum moralisch besetzt („das Stadtbild ist verdorben“), zweitens wird weibliche Zustimmung erfunden, um das Urteil zu legitimieren. Das Ergebnis ist ein paternalistisches Sprachspiel: Ein Mann spricht über Frauen, um seine Deutungshoheit zu festigen. Er gebraucht das Weibliche als Bestätigung, nicht als Stimme. Worte wie Stadtbild oder Straßenbild sind keine neutralen Begriffe. Sie formen, was wir sehen – und was wir sehen sollen. Sie verwandeln soziale Wirklichkeit in visuelle Ordnung. Und wer über Ordnung spricht, spricht fast immer auch über Kontrolle.
Die Stadt ist nie nur Kulisse. Sie ist Bühne unserer Werte. Wer sagt, das Stadtbild sei „problematisch“, spricht nicht über Fassaden, sondern über Menschen. Er/sie teilt Sichtbares und Unsichtbares, Zugehörigkeit und Fremdheit, Schönheit und Störung. In Goebbels’ Satz wurde daraus Vernichtung. In Merz’ Satz wird daraus Stimmungspolitik. In beiden Fällen verrät die Metapher, was sie verschleiern will: die Angst vor Veränderung, die Angst vor dem Anderen, die Angst, das eigene Bild von Ordnung könne sich auflösen.

Ein fotografischer Blick

Vielleicht sehe ich das besonders scharf, weil ich Fotografin bin. Weil ich weiß, wie sehr ein Blick Wirklichkeit macht. Ein Foto kann jemanden sichtbar machen – oder aus dem Bild schneiden. Es kann Nähe herstellen oder Distanz schaffen. Und genau das tut auch Sprache: Sie komponiert Welt.
Wenn ich heute durch Städte gehe, sehe ich keine Bedrohung im Stadtbild, sondern Spuren von Vielfalt, Bewegung, Leben. Ich sehe Menschen, die sich Räume aneignen, die Stadt immer wieder neu erfinden – nicht trotz, sondern wegen ihrer Unterschiedlichkeit.
Das wahre Problem entsteht nicht auf der Straße, sondern in der Sprache.

Die Verantwortung der Worte

Sprache ist kein neutrales Werkzeug. Sie ist Handlung. Gestaltung. Erinnerung. Wer den öffentlichen Raum beschreibt, gestaltet ihn. Und wer ihn moralisch bewertet, verschiebt Grenzen der Wahrnehmung. Deshalb müssen wir auf Wörter achten wie auf Bilder. Denn manchmal beginnt Ausgrenzung nicht mit Gewalt – sondern mit einem Satz.

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