Mit diesem Foto starte ich eine neue Serie von Beiträgen, beginne damit, Fotografien aus meinem Archiv neu zu betrachten – jenseits des Entstehungsmoments, mit dem Blick von heute. Ich möchte herausfinden, was mir meine eigenen Bilder heute zeigen: Wie habe ich damals gesehen – und wie sehe ich jetzt?

Dieses Porträt entstand 1993 oder 1994 in Berlin, in der Wohnung von Jessica, einer meiner ehemaligen Praktikantinnen. Es gehört zu einem fotografischen Projekt aus meinem Studium, das sich explizit mit Beziehungserfahrungen beschäftigte – geleitet vom Gedanken, dass Selbsterfahrung ohne das Gegenüber nicht denkbar ist. Wie sich etwas offenbart, wenn wir uns gemeinsam in einen Moment hineinbegeben – jenseits von Pose oder Absicht.
Der Titel dieser Serie ist ein Zitat von George H. Mead:
Das macht deutlich: Es ging nicht allein um Porträtfotografie im klassischen Sinne – sondern um ein relationales, reflektiertes Sehen. Um das Sich-Begegnen, das Mit-Gemeint-Sein. Um Beziehung als fotografischen Erfahrungsraum.
Formale Bildbeschreibung
Im Zentrum: eine junge Frau, lachend, kraftvoll. Sie lehnt sich leicht nach vorn, den rechten Arm über die Tischkante gelegt, die linke Hand halb erhoben, wie im Gespräch. Die Haare sind ungebändigt, der Blick offen, das Lachen breit – ohne zu posieren. Im Vordergrund: ein angeschnittenes Brot, ein Glas mit Milchkaffee, ein Messer. Der Hintergrund: weiß, flächig, fast überbelichtet, in die das Gesicht hineinleuchtet. Das Licht ist weich, diffus, Fensterlicht. Es betont die Haut, lässt das Schwarz des Pullovers satt erscheinen und verleiht dem Raum Weite.
Rechts oben im Bild hängt ein fragmentarisches Objekt – eine Anordnung aus dunklem, kantigem Material. Was zunächst wie eine Collage oder Dekoration erscheint, ist in Wahrheit ein Relikt aus der Werkstatt von Jessicas Vater:
Er entwarf Fensterbilder für Kirchen – und was hier an der Wand hängt, sind Reste des Bleis, mit dem die Glasfragmente für diese Fenster verbunden wurden.
Damit steht dieses kleine Element symbolisch für Herkunft, Geschichte, Verbindung. Blei als verbindendes Material. Etwas, das hält – und dabei gleichzeitig lichtdurchlässig macht. Etwas aus dem Hintergrund des Elternhauses, das still im Bild mitschwingt.
Wie eine genealogische Fußnote, die man nicht sieht, aber spürt.
Inhaltlich-psychologische Interpretation
Das Bild zeigt Beziehung in vielen Schichten:
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zwischen mir und Jessica, im Moment der Aufnahme: eine Beziehung auf Augenhöhe, durch Offenheit geprägt.
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zwischen Jessica und ihrem Herkunftshaus: sichtbar im Artefakt des Vaters, das nicht im Zentrum steht, aber Teil der Szene ist.
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zwischen dem Sichtbaren und dem Gemeinten: das Lachen, das nicht aufgesetzt ist, sondern echt. Kein Statement, sondern ein Zustand.
Das Bild zeigt nicht nur Jessica – es zeigt auch das Vertrauen, das nötig ist, damit ein Mensch sich so zeigen kann. Und es zeigt, wie ich als Fotografin Raum gebe. Raum, in dem sich jemand zeigen darf, nicht muss.
Bezug zum Projekttitel
Dieses Bild verkörpert diesen Satz fast modellhaft: Mein Blick, meine Anwesenheit als Fotografin, Jessicas Bereitschaft, sich einzulassen, die ruhige Umgebung – alles wirkt miteinander verbunden. Und im Hintergrund: die Verbindung zur Herkunft, zur väterlichen Arbeit, zum Material, das Fensterbilder hält – also genau jene Bilder, durch die Licht fällt.
Was mir das Bild heute zeigt
Mit dem Abstand von über 30 Jahren hat sich der Fokus verschoben. Heute sehe ich vielleicht weniger die lachende junge Frau – sondern mehr das, was sie in diesem Moment zuließ. Ich sehe auch mich selbst in diesem Bild: die Art, wie ich Jessica sehe, wie ich unsere Beziehung in eine Fotografie übersetze.
Und es erinnert mich daran, wie viel Nähe möglich war – auch ohne viele Worte, und dass Porträtfotografie nicht nur Abbildung ist, sondern Beziehung. Und dass jedes Detail – selbst das Bleifragment in der Ecke – Teil der Geschichte wird, wenn wir nur genau genug hinschaut.