Ich lese gerade über den Vergewaltigungsfall von Gisèle Pelicot und merke, wie es mir immer schlechter dabei geht – es geht mir tief unter die Haut.
 
Misogynie, die Abwertung und Feindseligkeit gegenüber Frauen, hat tief verwurzelte historische und kulturelle Ursprünge, die sich in Kunst, Literatur und Gesellschaft widerspiegeln. Sexualisierte Gewalt ist eines der extremsten Ausdrucksmittel dieser frauenfeindlichen Haltung. Über Jahrhunderte hinweg wurden Frauen die Fähigkeit, über ihren Körper zu bestimmen, systematisch entzogen. Frauen, die als bewusstlose, wehrlose Wesen dargestellt werden, sind keine Seltenheit in der Kunstgeschichte. Diese Bilder waren jedoch nicht bloß künstlerische Fantasien, sie spiegeln die gesellschaftliche Realität und die Machtverhältnisse wider. Das Motiv der passiven Frau, die „im Schlaf verführt“ wird, ist in Wahrheit ein Symbol der Gewalt, und die Akzeptanz dieser Darstellungen hat zu einer tiefen Normalisierung sexualisierter Gewalt geführt.
Der Fall Gisèle Pelicot zeigt deutlich, wie stark diese patriarchalen Muster auch heute noch wirken. Dominique Pelicot, 71, ist angeklagt und geständig, über Jahre hinweg seine Frau Gisèle Pelicot betäubt und im Zustand wehrloser Bewusstlosigkeit zahlreichen Männern zur Verfügung gestellt zu haben.
In New York sitzt der Musikmogul Sean »Diddy« Combs wegen des Vorwurfs, ein Netzwerk für sexuelle Gewalt gegründet zu haben, in Untersuchungshaft. Und in Deutschland veröffentlichte Rammstein-Sänger Till Lindemann 2020 Texte, die K.-o.-Tropfen als Mittel für sexuelle Gewalt verherrlichen. All diese Fälle zeigen, wie tief verwurzelt diese Haltung in unserer Gesellschaft ist. Rubens sorgte im 17. Jahrhundert dafür, dass sich die Frau »im Schlaf« besonders lasziv biegt. Er wusste, was dem männlichen Publikum gefiel.
Wer durch den Pariser Louvre geht, wird auch das Motiv der dahin gegossenen, ohnmächtigen Frau finden. Ob diejenigen, die in diesen Tagen so ein Bild betrachten, dabei an eine Frau denken, die sich im selben Land, 700 Kilometer weiter südlich, vorgenommen hat, hellwach und vor den Augen der Öffentlichkeit in die Augen von 51 Männern zu schauen, die sie vergewaltigten, als sie wehrlos schlief?

Dass Gisèle Pelicot darum kämpfen musste, die von ihrem Ehemann aufgenommenen Videos als Beweise im Gericht zuzulassen, verdeutlicht die Weigerung, sexualisierte Gewalt offen anzuerkennen. Gisèle Pelicot sorgt dafür, dass das an ihr begangene Verbrechen nicht im Verborgenen bleibt. Ihr scheint zu gelingen, was anderen Opfern nicht immer gelingt: die Scham, die auf den Opfern lastet, endlich sichtbar zu machen und dorthin zu verschieben, wo sie hingehört – zu den Tätern. Ihr mutiger Kampf, die Videos vor Gericht zuzulassen, die ihre eigene Vergewaltigung dokumentieren, war entscheidend. Pelicot bestand darauf, dass nur durch das Bildmaterial die volle Grausamkeit der Taten erkennbar wird. Denn Worte allein reichen oft nicht aus, um die Schwere und den Schmerz der Gewalt zu vermitteln.

Dieser Fall offenbart ein grundlegendes Problem: die Weigerung, die Realität sexualisierter Gewalt in vollem Umfang anzuerkennen. Diese Verleugnung schützt die Täter und nicht die Opfer. Pelicot zeigt eindrücklich, dass es nicht die Opfer sind, die sich schämen müssen, sondern die Täter. Der Widerstand gegen die Visualisierung ihrer Vergewaltigungen ist symptomatisch für eine tiefere Weigerung, solche Verbrechen ernst zu nehmen. Dies muss sich ändern.

Die Macht der Visualisierung darf nicht unterschätzt werden. Sie zwingt uns, hinzusehen, wo wir sonst vielleicht wegsehen würden. Bilder, Videos und andere visuelle Mittel machen die Schwere sexualisierter Gewalt deutlich und zwingen die Gesellschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Nur wenn wir die tief verwurzelten misogynen Muster in Kunst, Kultur und Medien hinterfragen und aufbrechen, kann sich langfristig etwas ändern. Dies erfordert auch eine konsequente juristische Handhabung von Fällen sexualisierter Gewalt. Gisèle Pelicots mutiger Einsatz zeigt, dass Visualisierung ein mächtiges Mittel sein kann, um die Gewalt aus der Dunkelheit zu holen und die Scham endgültig den Tätern zurückzugeben.

Ich sehe hier Parallelen zu meinem Diskurs über die Darstellung nackter Frauen in der Fotografie. Es geht um ähnliche Themen: Macht, Kontrolle und die Objektifizierung des weiblichen Körpers. Der wird oft als passives Objekt dargestellt, das zum Konsum durch den männlichen Blick oder zur Ausübung von Gewalt verfügbar ist. Diese Darstellungen tragen zur Normalisierung solcher Machtverhältnisse bei und prägen gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was Frauenkörpern angetan werden darf oder was „akzeptabel“ ist.
Es erschüttert mich, wie tief patriarchale Strukturen in unserer visuellen Kultur immer noch eingebettet sind. Und ich verstehe immer mehr meine Abneigung, mir solche Fotos von Frauen anzusehen. Und ich bedauere zutiefst, dass Fotografinnen sich an der Reproduktion der immer gleichen Aussage in solchen Fotos beteiligen, ohne zu erkennen oder zu hinterfragen, was sie damit tun: die Objektifizierung des weiblichen Körpers fortzuschreiben.
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