Die Stille nach dem letzten Satz
Es gibt einen Moment, den niemand vorbereitet. Nicht den Endspurt. Nicht das triumphale „Es ist geschafft.“ Sondern den Moment danach. Wenn alles, was über Monate Gewicht hatte, plötzlich aus den Händen fällt – und in dieser neu entstandenen Leere kein Jubel kommt, sondern:
- Müdigkeit,
- Stillstand,
- manchmal Tränen.
Ich nenne es post-projektive Erschöpfung. Ein Zustand, in dem der Körper bereits verstanden hat, dass etwas zu Ende ist, während der Kopf noch versucht, weiter zu funktionieren.
Es ist nicht Schwäche. Es ist ein biologischer Übergang.
Große Projekte — Bücher, Ausstellungen, Abschlüsse, Umzüge, Operationen — fordern unser Nervensystem heraus. Während des Projekts herrschen:
- Fokus
- Adrenalin
- Tunnelblick
Wir halten uns künstlich wach. Wir schieben Gefühle nach hinten. Wir verhandeln mit dem Körper.
„Noch nicht müde sein. Noch nicht fühlen. Erst fertig werden.“
Und der Körper gehorcht. Aber sobald der letzte Satz geschrieben, der letzte Upload versendet ist — nimmt er sich alles zurück. Er verlangt sein Recht auf Erschöpfung. Kennst du die Euphorie vor einem Projekt. Nur wenige sprechen über den Moment danach. Diese Pause ist nicht Faulheit. Kein „Schaffensloch“. Kein Verlust an Motivation. Es ist:
- Entladen.
- Umschalten.
- Regenerieren.
Der Körper sagt: „Ich habe dich getragen. Jetzt trägst du mich.“ Ein seltsamer Nebeneffekt post-projektiver Erschöpfung ist, dass selbst Anerkennung zu viel sein kann. Man arbeitet monatelang im Stillen, zweifelt, kämpft, trägt sich selbst durch Talfahrten. Und plötzlich kommt sie:
eine Rezension.
ein Lob.
jemand, der schreibt: „Dieses Buch hat mich berührt.“
Und statt Freude reagiert etwas in mir mit Rückzug. Nicht aus Undankbarkeit. Sondern weil mein System noch im Überlebensmodus ist. Wertschätzung ist ein Lichtstrahl.
Aber wenn man gerade aus der Höhle kommt, kann selbst Licht brennen. Ich lerne immer noch, mit Kritik umzugehen. Doch Wertschätzung verlangt etwas anderes:
-
gesehen werden, ohne zu fliehen.
-
Anerkennung halten können.
-
den Raum nicht sofort verkleinern.
Das ist ungewohnt. Und manchmal schmerzhaft. Weil Anerkennung nicht nur bestätigt, sondern entblößt. Sie sagt: „Ich sehe dich.“ Und ich merke, wie schwer es mir fällt, dieses Gesehenwerden zu halten — nicht im Kopf, sondern im Körper. Vielleicht lerne ich es erst jetzt: Würdigung auszuhalten ist Teil der Heilung.
Alles in mir will Ruhe – und alles außen verlangt Aktivität
Und dann kommen die Stimmen von außen:
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„Machst du eine Lesetour?“
Während innen ein leiser Satz auftaucht: „Ich möchte erst einmal wieder atmen.“ Es ist paradox: Kaum ist ein Projekt abgeschlossen, beginnt die Phase, in der wir es bewerben sollen. Das Nervensystem jedoch steht noch im „Überlebensmodus“.
Was hilft?
Nicht Planung.
Nicht Strategie.
Nicht weiterfunktionieren.
Sondern Rückkehr in den Körper.
- Gehen.
- Gym.
- Atmen.
- Schlafen.
- Nichts tun dürfen.
Nicht, um wieder leistungsfähig zu sein — sondern um wieder ganz zu sein. Und dann, langsam:
Ein Schritt.
Eine Mail.
Ein Gespräch.
Keine Lesetour organisieren.
Nur Interesse signalisieren.
Keine perfekten Pläne.
Nur eine Richtung.
Post-projektive Erschöpfung ist kein Ende
Ich beginne zu begreifen, dass sie ein Übergang ist. Nicht der Moment, in dem ich weiß, wie es weitergeht. Sondern der Moment, in dem ich spüre, dass ich gerade noch nicht weitergehen kann. Diese Erschöpfung zwingt mich nicht zur Pause. Sie zeigt sie mir. Sie ist kein Stillstand, sondern ein Zwischenraum: ein Atemzug, bevor ein neuer Satz entsteht. Eine Verlangsamung, damit meine Seele nachkommt. Ein leises: „Warte. Ich lerne — langsam — dass Energie nicht zurückkehrt, wenn ich sie einfordere. Sie kommt, wenn ich aufhöre zu drängen. Vielleicht besteht Mut gerade darin, nicht sofort das nächste Projekt zu greifen. Sondern zu erkennen: Ich bin müde. Und mir zu erlauben, diese Müdigkeit zu spüren.
Post-projektive Erschöpfung heißt nicht, dass ich es nicht wert bin, gefeiert zu werden. Es heißt nur, dass ich lerne, langsam in das Licht zu treten — ohne mich darin zu verbrennen.