Es gibt Tage, an denen ich nicht mit Gedanken erwache, sondern mit einer Melodie. Heute war es „Lollipop“ von The Chordettes – ein Song, leicht wie Zuckerwatte und zugleich völlig unpassend zu allem, was die letzten Tage in mir aufgewühlt hat. Und genau diese Fremdheit ließ ihn nicht verschwinden.
Ich habe mich gefragt: Was will mir mein Unbewusstes mit dieser Melodie sagen?
„Lollipop“ ist pure Leichtigkeit. Ein Song ohne Drama.Nach Tagen voller Aufregung, Grenzerfahrungen und innerem Adrenalin wirkt diese Melodie wie ein Gegenmittel.
Manchmal übernimmt der Körper das Kommando und sagt: Atme. Nicht alles ist schwer. Ein Echo der frühen Jahre. Ich bin 1950 geboren. Meine ersten Lebensjahre tragen den Klang dieser Zeit. „Lollipop“ ist Teil einer Ära, deren Oberflächen glänzten, während unter ihnen strenge Normen herrschten: Frauenbilder, die einengen; Rollen, die festgezurrt waren wie Korsetts. Wenn ein Lied aus dieser Ära in mir auftaucht, dann oft nicht biografisch – sondern atmosphärisch. Es erinnert an eine Zeit, in der süße Melodien strenge Regeln übertünchten. Vielleicht klopft diese Schicht heute an? Zucker, der lockt – und nichts nährt.
„Lollipop“ ist eine Metapher: etwas Süßes, das man genießt, das aber keine Nahrung ist. Vielleicht fragt mein Unbewusstes:
Was in meinem Alltag ist süß, aber nicht nährend? Und wo darf etwas einfach leicht sein, ohne tieferen Zweck?
Wenn ich die letzten Wochen betrachte, wird mir etwas anderes klar: Ich befinde mich auf einer Hochspannungsspur. Buchvorbereitung, Lesungen, Steuerdruck, neue Sichtbarkeit, institutionelle Anfragen, Grenzerfahrungen, Reels, Anerkennung, alte Wunden – alles gleichzeitig. Mein Nervensystem arbeitet im oberen Frequenzbereich, fast wie ein überfein gestimmtes Instrument. In solchen Momenten entsteht eine Überdosis Präsenz, Aktion, Reaktion, Außenwelt. Eine Art innerer Wirbel, der sich selbst verstärkt. Und genau darin kann ein Popsong wie „Lollipop“ eine kleine Korrektur sein. Nicht moralisch, nicht therapeutisch, sondern körperlich: ein regulatorischer Impuls. Es geht um:
• einen Rhythmus, der sich beruhigen will
• einen Körper, der nach langsamerer Frequenz sucht
• ein System, das aus der Übererregung wieder ins Gleichmaß möchte
Kreative Menschen kennen das: Die Energie steigt, die Ideen steigen, der Erfolg steigt – und irgendwo sagt etwas in einem: „Langsam. Atme.“ Mein Nervensystem hat wohl nachts sortiert. In den letzten Tagen war ich ein bisschen Naturgewalt, ein bisschen Sturm, ein bisschen Herzrasen.
Ein Rhythmus, der sich wiederholt und beruhigt – wie eine innere Selbstmassage. Vielleicht brauchte ich genau das.
Was bleibt?
Eine simple, fast alberne Melodie, die mir am Morgen zufliegt wie ein Vogel auf der Fensterbank. Ein Angebot zur Leichtigkeit. Ein kleines „Es reicht, Beate. Heute darfst du dich nicht selbst überholen.“
Und während ich diesen Text schreibe, merke ich: Auch das ist Teil meiner Autobiografie. Selbst die unerwarteten Lieder, die mich wecken, gehören zu meiner Geschichte. Und vielleicht ist es genau diese kleine Morgenbotschaft, die ich brauche, um mich nachher wieder an diese Steuererklärung zu setzen – ohne Drama, ohne Herzrasen, nur Schritt für Schritt. Nicht als Zumutung, sondern als Fortsetzung meines Rhythmus.
Ein Lied im Kopf, ein Formular auf dem Tisch, und beides darf gleichzeitig wahr sein.