Im nördlichen Europa existiert seit alters her eine Gestalt, die mit Rute und Nüssen die Menschen auf die lange Winterzeit vorbereitet. Die Rute galt dabei als Fruchtbarkeitssymbol, die Nüsse als gehaltvolle und haltbare Nahrung. In der volkstümlichen Tradition diente die Rute oft als Erziehungsmaßnahme: ungezogene Kinder wurden ermahnt, sich im kommenden Jahr besser zu benehmen. Diese Tradition war in meiner Kindheit noch lebendig.
In meiner Kindheit war die Rute kein abstraktes Symbol, sondern ein fester Bestandteil des Nikolaustags. Jedes Jahr fand ich sie in meinem Stiefel, stets verziert mit Schokoladenpäckchen. Vielleicht sollte diese Kombination aus Süßem und Strafe eine Botschaft senden: Du warst nicht artig – aber es ist nicht alles verloren. Für mich jedoch war sie vor allem eines: eine stille Anklage, die mich jedes Jahr aufs Neue traf.
Ich konnte nicht begreifen, warum ich bestraft wurde. Es gab keine Erklärung, nur diese stumme Botschaft: ‚Du bist nicht gut genug.‘ Als Kind habe ich sie geschluckt, ohne sie zu hinterfragen. Erst als Erwachsene wurde mir bewusst, wie sehr mich diese Erfahrung geprägt hat. Es war nicht nur die Rute an einem Nikolaustag, sondern die Wiederholung einer tieferen Botschaft: Ich war nie ganz richtig, so wie ich war. Heute sehe ich klarer, wie tief diese Unsicherheit in mir verwurzelt ist.
Heute denke ich, dass diese Erfahrung schmerzhaft und prägend war, da ich diese tiefe Verunsicherung heute noch fühle. Es ist schmerzlich, so etwas rückwirkend zu erkennen, weil es einem zeigt, wie oft wir als Kind Schutz gebraucht hätten – und ihn nicht immer bekommen haben. Rückblickend denke ich, dass meine Mutter die Rute vielleicht als Scherz verstand. Für sie war es wohl ein Spiel – für mich war es mehr. Ich werde nie wissen, was sie dabei dachte, aber diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Kindern das Gefühl zu geben, richtig zu sein, genauso wie sie sind. Heute schenke ich meinen Enkelkindern nicht nur Süßigkeiten, sondern auch das, was ich mir damals gewünscht hätte: bedingungslose Annahme. Denn das ist das wahre Geschenk, das wir weitergeben können.