Wir alle sind in einem patriarchalen, sexistischen Gesellschaftssystem sozialisiert worden. Diese Prägung, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist, beeinflusst unser Denken und Handeln oft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ich selbst bin 1950 geboren, und diese Information soll nicht als Entschuldigung, sondern als Erklärung dienen.
Frauen, ihr Wert und ihre Leistungen sind denen der Männer in unserem Bewusstsein nicht gleichwertig. Es ist meine Aufgabe, dies zu reflektieren und in der Gegenwart nicht fortzuschreiben. Und trotzdem gelingt es mir nicht immer, diesem Vorsatz gerecht zu werden.

Gerade bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich in einem Podcastgespräch nur den Mann als Autor eines Fotobuches, das, und das ist mir durchaus bewusst, von einer Frau und einem Mann kreiert worden ist, genannt habe. Die Zusammenarbeit dieser beiden ist so außergewöhnlich und einmalig und ihr Fokus liegt vor allem auf dem kreativen Prozess, der sich letztendlich in Fotografien manifestiert, dass mir genau dieser Umstand bisher nicht vollkommen bewusst gewesen sein muss, denn ansonsten wäre mir dieser Fauxpas sicher nicht passiert. Seitdem ich darauf aufmerksam gemacht wurde und mich ziemlich genau an dieses Gespräch erinnere, schäme ich mich. Ja, das tue ich wirklich. Mein Nachdenken über dieses Thema ist der Versuch einer Entschuldigung, aber es zeigt auch, wie tief verwurzelt und wie schwer zu überwinden patriarchale Denkmuster sind.

Diese Einsicht führt mich zu einer grundlegenden Frage: Was ist Bewusstsein? Bewusstsein ist im weitesten Sinne die Summe der mentalen Prozesse wie Empfindung, Wahrnehmung und Erleben. Michio Kaku definiert es so: „Bewusstsein ist der Prozess, unter Verwendung zahlreicher Rückkopplungsschleifen bezüglich verschiedener Parameter (z. B. Temperatur, Raum, Zeit und in Relation zueinander) ein Modell der Welt zu erschaffen, um ein Ziel zu erreichen.“ Dieses Ziel ist wohl, die Welt um uns herum zu verstehen und zu deuten. Doch wenn ich in dieser mich umgebenden Welt immer wieder damit konfrontiert werde, wie die Leistungen von Frauen abgewertet werden, bedarf es einer hohen Konzentration, um nicht den gleichen Fehler zu machen.

Ein weiteres Beispiel meiner unbewussten Prägung ist mein Umgang mit meinen Enkelkindern. Mir ist aufgefallen, dass ich das Äußere meiner Enkeltochter öfter benenne als die Äußerlichkeiten meines Enkelsohns. Ich sage Dinge wie, dass mir ihr Kleid gefällt oder ich ihr gerne Zöpfe flechten würde. Mir fällt auf, dass mein Enkelsohn in den letzten Monaten gewachsen ist, doch ich äußere mich dazu nicht mit derselben Häufigkeit oder Begeisterung. Dieses Verhalten zeigt, wie tief ich von der Zeit, in der ich sozialisiert worden bin, geprägt wurde und wie sehr es meiner bewussten Anstrengung bedarf, um diese Muster zu durchbrechen.
Diese unbewussten Vorurteile und Muster sind nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Sie spiegeln die größeren gesellschaftlichen Normen und Werte wider, die wir durch Erziehung, Medien und kulturelle Einflüsse verinnerlichen. Es ist eine ständige Herausforderung, diese internalisierten Denkmuster zu erkennen und aktiv dagegen anzukämpfen.

Ein weiteres Beispiel, das die Schwierigkeit zeigt, sich von patriarchalen Denkweisen zu lösen, ist die Darstellung von Frauen in den Medien. Frauen werden häufig auf ihr Äußeres reduziert und ihre Leistungen weniger gewürdigt als die von Männern. Dies perpetuiert ein Bild von Frauen, das ihren wahren Fähigkeiten und Beiträgen nicht gerecht wird. Ein berühmtes Beispiel ist die Berichterstattung über Frauen in der Wissenschaft. Während männliche Wissenschaftler oft für ihre beruflichen Errungenschaften gefeiert werden, konzentriert sich die Berichterstattung über Wissenschaftlerinnen häufig auf ihre Rolle als Mutter oder Ehefrau. Dies lenkt von ihren beruflichen Leistungen ab und reduziert ihren Wert auf traditionelle Geschlechterrollen. Auch in der Fotografie-Geschichtsschreibung wurde zu Beginn der Fotografie, die Leistungen von Frauen gerne ihren Ehemännern zugeschrieben, dabei waren es die Frauen, die durch ihre Berufstätigkeit z.B. als Daguerreotypist:Innen zum finanziellen Auskommen der Familie erheblich beitrugen.

Ein weiteres prominentes Beispiel ist die Film- und Fernsehindustrie. Trotz einiger Fortschritte werden Frauen immer noch oft in stereotypen Rollen dargestellt. Männer dominieren nach wie vor die Hauptrollen und werden häufiger als starke, unabhängige Charaktere gezeigt, während Frauen in unterstützenden oder romantischen Rollen bleiben. Dies beeinflusst unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung dessen, was Frauen erreichen können und sollten. Patriarchale Denkweisen zu überwinden, erfordert eine kollektive Anstrengung. Es reicht nicht aus, dass Einzelpersonen ihre eigenen Vorurteile hinterfragen; es muss auch ein struktureller Wandel stattfinden. Dies bedeutet, dass Bildungssysteme, Medien und kulturelle Institutionen sich aktiv bemühen müssen, geschlechtergerechte Darstellungen und Anerkennungen zu fördern.
Die Überwindung patriarchaler Denkweisen und sexistischen Verhaltens erfordert eine tiefgreifende und kontinuierliche Reflexion und Anstrengung. Es ist ein Prozess, der sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden muss. Nur durch bewusste Anstrengung und strukturelle Veränderungen können wir eine Gesellschaft schaffen, in der Frauen und ihre Leistungen wirklich gleichwertig anerkannt und geschätzt werden.

Nachtrag

Hier sind einige Quellen und Literaturtipps zum Thema struktureller Sexismus:

Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ von Caroline Criado-Perez**: Dieses Buch beleuchtet, wie Frauen systematisch in Datenerhebungen und Entscheidungsprozessen übersehen werden.

Der Mann: Eine Fallstudie von Sibylle Berg: Bergs Buch bietet eine kritische Betrachtung männlicher Machtstrukturen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg von Sheryl Sandberg**: Sandberg untersucht die Hindernisse, die Frauen im Beruf aufgrund struktureller Sexismen überwinden müssen.

Global Gender Gap Report vom Weltwirtschaftsforum: Jährliche Berichte, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in verschiedenen Ländern analysieren und bewerten.

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