Sehen ist kein passiver Vorgang

Es beginnt lautlos.
Ein Blick.
Ein Ausschnitt.
Ein Atemzug, bevor das Bild entsteht.

Fotografie wird oft als technischer Vorgang beschrieben: Licht trifft auf Material. Ein Knopf wird gedrückt. Ein Bild entsteht.
Doch das ist nur Oberfläche.

Sehen ist Auswahl. Auswahl ist Entscheidung. Entscheidung ist Macht.

Und Macht war Frauen nie zugestanden.

Der Blick verändert die Ordnung

Jahrhundertelang sollten Frauen betrachtet werden, nicht selbst betrachten.
Objekt sein, nicht Subjekt.
Abgebildet werden, nicht erzählen.

Denn wer sieht, definiert.
Wer den Blick hält, verschiebt das Machtverhältnis.

Eine Fotografin ist keine Sammlerin von Bildern.
Sie ist eine Zeugin.
Eine Autorin von Wirklichkeit.

Sie sagt nicht: „So war es.“
Sondern: „Ich habe entschieden, dass es Bedeutung hat.“

Die Kamera als Werkzeug der Deutungshoheit

Es gibt einen Grund, warum versucht wird, Frauen das Sehen auszureden:
„Du interpretierst zu viel.“
„Das bildest du dir ein.“
„Sei nicht so empfindlich.“
„Das ist nicht objektiv.“
Objektivität war immer eine Behauptung derer, die sich den Luxus leisten konnten, ihre Sicht zur Norm zu erklären.

Wenn eine Frau die Kamera hebt, beansprucht die Deutungshoheit – ohne um Erlaubnis zu fragen.

„Mein Blick ist gültig.“

Nicht bewiesen.
Nicht genehmigt.
Gültig.

Sehen ist Widerstand

Widerstand beginnt nicht mit Lautstärke.
Widerstand beginnt mit Wahrnehmung.
Mit dem Moment, in dem du nicht mehr wegschiebst, nicht mehr beschwichtigst, nicht mehr kleinmachst, was du siehst und fühlst.
Sehen heißt: Ich verweigere das Nichtwissen.
Es ist ein Nein zu dem, was unsichtbar gemacht werden soll.
Ein Ja zu dem, was wirklich ist.

Fotografie als Gegenmacht

Fotografie hält fest, was anderen entgleitet:

  • das Unbequeme,
  • das Ungesagte,
  • das Unbeachtete,
  • das Übersehene.

Sie bewahrt Spuren.
Sie schreibt gegen das Verschwinden an.
Jede Fotografie sagt: „Etwas hat stattgefunden. Und ich war dort.“

Sehen ist Selbstbestimmung

Es ist nicht nötig, laut zu werden, um mächtig zu sein.
Manchmal reicht ein stiller Satz: „Ich sehe.“  Dieser Satz ist nicht Beobachtung. Er ist Besitznahme.
Nicht: „Man sieht.“
Nicht: „Es wurde gesehen.“Sondern: „Ich.“ 

Epilog

In einer Welt, die Frauen zu Bildern macht, ist jede Frau, die zurückblickt, eine Störung der Ordnung.
Sehen ist der Anfang.
Erzählen ist die Fortsetzung.
Bedeutung ist das Ergebnis.

Sehen ist Widerstand.
Erinnern ist Macht.
Sprechen ist Freiheit.

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