Ich sitze vor dem Computer und lese in meinem Manuskript.
Da fehlt etwas – ich beginne zu schreiben.
Und plötzlich ist da etwas.
Wie ein Nebel am Rand, der dichter wird.
Es kommt nicht nur vom Inhalt. Es kommt von der Erinnerung, wenn Worte zu Bildern werden.

Das Gefühl kenne ich. 2019 war es genauso. Damals öffnete ich einen Karton. Fand Fotografien. Sie brachten Ohnmacht. Wut. Angst.
Und ich merkte erst spät, dass sie mich schon im Griff hatten. Damals tat ich Dinge, die mir nicht gut taten.

Die Fotografien brachten mir nicht nur Erinnerungen zurück, sondern auch die Erkenntnis: Die analoge Fotografin, die ich einmal war,
war nicht mehr in meinem Bewusstsein. Jahrzehntelang war sie Teil meiner Identität gewesen. Das Wiedersehen mit den Kontaktbögen
fühlte sich an wie eine Begegnung mit einer Fremden, die mir gleichzeitig unendlich nah war.

Heute passiert Ähnliches – nicht vor einem Foto, sondern mitten im Satz.
Erinnerungen kommen selten allein. Sie sind ein Bündel: Szenen, Körperempfindungen, Gedanken von damals und heute, die sich überlagern. Der Kern wird schärfer, die Ränder verschwimmen. Und während ich schreibe, füllt mein Inneres die Lücken.
Es entsteht etwas Neues – keine reine Chronik, sondern meine heutige Wahrheit über das, was war.

Der Unterschied zu 2019: Ich spüre früher, wenn etwas in mir wächst. Ich kann innehalten. Atmen. Fragen: Gehört das zum Heute? Oder ist es ein Echo? Ich erkenne das alte Muster: Grenze wird überschritten → Ohnmacht → Nett-sein-Reflex.
Und diesmal kann ich stehenbleiben. Die Grenze setzen, bevor das Muster übernimmt.

Schreiben ist für mich kein reines Erinnern. Es ist ein Resonanzraum. Vergangenheit und Gegenwart begegnen sich. Und ich sehe, wie ich mich verändert habe. Zwischen den Sätzen wächst etwas, das kein Kapitel fassen kann:
Klarheit.
Und die Gewissheit, dass ich heute anders handeln kann als damals.

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