Mythen des Alltags

von Roland Barthes

Roland Barthes’ »Mythen des Alltags« sind längst selbst zum Mythos geworden. In seinen provokativ-spielerischen Gesellschaftsstudien entschlüsselt er Phänomene wie das Glücksversprechen der Waschmittelwerbung, das Sehnsuchtspotential von Pommes frites und die göttlichen Qualitäten des Citroën DS. Seine radikale Hinterfragung des Alltäglichen ist bis heute von bestechender Aktualität. Die Essays ermuntern dazu, dem scheinbar Selbstverständlichen kritisch gegenüberzutreten und den Blick für mögliche Veränderungen zu schärfen.
Die erste vollständige Übersetzung enthält 34 zusätzliche Essays und macht diesen Kultklassiker deutschsprachigen Lesern erstmals in seiner ganzen Bandbreite zugänglich. »Mythen des Alltags« bietet ein Instrumentarium zur Deutung unserer Alltagskultur und begründete Roland Barthes’ Ruf als brillanter Interpret der Welt der Zeichen.

In dieser Sammlung von Essays gibt es auch eines über diese Ausstellung:

Die große Familie der Menschen

In Paris wurde eine große Photoausstellung eröffnet, deren Ziel es ist, die Universalität menschlicher Gesten im Alltag sämtlicher Länder der Welt zu zeigen: Geburt, Tod, Arbeit, Wissen, Spiel fordern überall das gleiche Verhalten; es gibt eine Familie des Menschen. The Family of Man, so lautete der Originaltitel dieser Ausstellung, die aus den Vereinigten Staaten zu uns gekommen ist. Die Franzosen haben übersetzt: La Grande Famille des Hommes [Die große Familie der Menschen]. So wird das, was auf den ersten Blick als zoologische Klassifizierung gelten mochte, die einfach die Ähnlichkeit von Verhaltensweisen festhält, die Einheit einer Spezies also, bei uns ausgiebig moralisiert und sentimental aufgeladen. Damit sind wir sofort auf den doppeldeutigen Mythos der menschlichen »Gemeinschaft« verwiesen, von dessen Alibi ein beträchtlicher Teil unseres Humanismus zehrt. Dieser Mythos wirkt in zwei Phasen: Zunächst bekräftigt man die morphologischen Unterschiede der Menschen, übersteigert den Exotismus, zeigt die unendlichen Variationen der Art, die Unterschiedlichkeit der Hautfarben, Schädelformen und Gebräuche; man erzeugt mutwillig eine babylonische Verworrenheit des Bildes der Welt. Und dann destilliert man aus dieser Vielfalt auf magische Weise wieder eine Einheit: Der Mensch wird geboren, arbeitet, lacht und stirbt überall auf die gleiche Weise. Sollte in seinem Tun immer noch ein Rest ethnischer Besonderheit übriggeblieben sein, so liegt dem, wie man uns wenigstens zu verstehen gibt, eine allen Menschen identische »Natur« zugrunde; ihre Unterschiedlichkeit ist nur formell und widerspricht nicht der Existenz einer gemeinsamen Matrix. Das läuft natürlich darauf hinaus, ein menschliches Wesen zu behaupten, und schon ist Gott in unserer Ausstellung wieder präsent: Die Vielfalt der Menschen bezeugt seine Macht, seine Fülle; die Einheit der menschlichen Gesten kündet von seinem Willen. Und das gibt uns auch der Einführungsprospekt zu verstehen, in dem uns André Chamson versichert, »dieser Blick auf die conditio humana« ähnele »ein wenig dem gütigen Blick Gottes auf unser lächerliches und erhabenes rastloses Treiben«. Die spiritualistische Absicht wird von den Zitaten betont, die jedem Themenkreis der Ausstellung beigegeben sind. Diese Zitate sind oft »primitive« Sprichwörter oder Verse aus dem Alten Testament. Sie verkünden sämtlich eine ewige Weisheit, eine Ordnung von Behauptungen, denen alle Geschichte entwichen ist: »Die Erde ist eine Mutter, die niemals vergeht«, »Iß Brot und Salz und sprich die Wahrheit« und so weiter. Es ist das Reich der zeitlosen Spruchwahrheiten, die Verbindung der Menschheitsepochen auf der neutralsten Stufe ihrer Identität, dort, wo die Evidenz des Gemeinplatzes nur noch in einer rein »poetischen« Sprache Wert hat. Inhalt und ästhetischer Eindruck der Bilder, der rechtfertigende Diskurs, alles zielt hier darauf, das bestimmende Gewicht der Geschichte zu unterdrücken. Wir werden an der Oberfläche einer Identität festgehalten und von der Sentimentalität daran gehindert, in jene darunterliegende Zone menschlicher Verhaltensweisen vorzudringen, dorthin, wo die geschichtliche Entfremdung jene »Unterschiede« einführt, die wir hier ganz einfach »Ungerechtigkeiten« nennen werden. Dieser Mythos der conditio humana, der »Beschaffenheit« des Menschen, beruht auf einer sehr alten Mystifikation, die von jeher die Geschichte auf Natur gründen möchte. Der ganze klassische Humanismus behauptet, daß man – wenn man ein wenig an der Geschichte der Menschen kratzt, an der Relativität ihrer Institutionen oder an der oberflächlichen Verschiedenheit ihrer Haut (aber vielleicht sollte man einmal die Eltern von Emmet Till, des von Weißen ermordeten jungen Negers, zur Großen Familie der Menschen befragen?) – darunter sehr bald auf den Fels einer universalen menschlichen Natur stoßen werde. Der fortschrittliche Humanismus muß hingegen stets darauf bedacht sein, die Begriffe dieses uralten Betrugs umzukehren, die Natur, ihre »Gesetze« und ihre »Grenzen« beständig zu entschlacken, um in ihnen die Geschichte zu entdecken und schließlich die Natur selbst als historisch zu setzen.
Beispiele? Nehmen wir doch die unserer Ausstellung. Geburt und Tod? Gewiß, das sind Naturgegebenheiten, universale Tatsachen. Doch wenn man ihnen die Geschichte entzieht, bleibt darüber nichts mehr zu sagen, wird jeder Kommentar rein tautologisch. Das Scheitern der Photographie scheint mir hier eklatant: Die bloß wiederholte Nennung von Tod oder Geburt lehrt uns buchstäblich nichts. Damit diese natürlichen Tatsachen zu einer wahren Sprache kommen, muß man sie in eine Ordnung des Wissens einfügen, das heißt postulieren, daß sie transformierbar sind, daß man gerade ihre Natürlichkeit unserer menschlichen Kritik unterziehen kann. Denn wie universal sie auch sein mögen, sind sie doch Zeichen einer historischen Schrift. Sicher, jedes Kind wird geboren, doch was kümmert uns unter der Menge der menschlichen Probleme das »Wesen« dieses Geburtsakts, gemessen an seinen Daseinsweisen, die völlig historisch sind? Darüber, daß das Kind unter angenehmen oder schwierigen Bedingungen zur Welt kommt, daß es seiner Mutter Leid bereitet oder nicht, daß es von einer hohen Sterblichkeitsrate bedroht ist oder nicht, daß ihm diese oder jene Zukunft offensteht – über all das müßten unsere Ausstellungen zu uns sprechen, statt die lyrische Feier der Geburt ewig fortzusetzen. Und das gleiche gilt für den Tod: Müssen wir wirklich noch einmal sein Wesen besingen und dabei aus dem Blick verlieren, daß wir noch so viel gegen ihn tun könnten? Es ist dieses noch ganz neue, allzu neue Vermögen, das wir rühmen müßten statt der sterilen Identität des »natürlichen« Todes.
Und was wäre von der Arbeit zu sagen, die von der Ausstellung zu den großen universalen Tatsachen gerechnet und zwischen Geburt und Tod eingereiht wird, als handelte es sich ganz selbstverständlich um das immer gleiche Schicksal? Daß Arbeit eine uralte Tatsache ist, hindert sie keineswegs daran, ein durch und durch historisches Faktum zu bleiben. Zunächst natürlich in ihren Modalitäten, ihren Motiven, ihren Zwecken und Erträgen, so sehr, daß es niemals redlich ist, den Arbeiter in den Kolonien und den Arbeiter im Westen miteinander gleichzusetzen, nur weil sie die gleichen Gebärden ausführen (fragen wir auch die nordafrikanischen Arbeiter in La Goutte d’or, was sie von der Großen Familie der Menschen halten). Und dann ihre Fatalität selbst: Wir wissen, daß die Arbeit in genau dem Maße »natürlich« ist, in dem sie »profitabel« ist, und daß wir, indem wir die Unabwendbarkeit des Profits verändern, vielleicht eines Tages die Unabwendbarkeit der Arbeit verändern werden. Von dieser gänzlich historisierten Arbeit müßte man zu uns sprechen und nicht von einer ewigen Ästhetik mühevoller Gebärden. So fürchte ich, daß die letzte Rechtfertigung dieses ganzen Adamismus darin liegt, der Unveränderlichkeit der Welt das Alibi einer »Weisheit« und einer »Lyrik« zu geben, das die Gesten des Menschen nur verewigt, um ihnen um so leichter ihre Sprengkraft zu nehmen.

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