Ich bin 75 Jahre alt und werde manchmal gefragt, ob ich noch „mitkomme“. Ob ich all die neuen Begriffe verstehe. Ob ich nicht überfordert bin von Gender-Sternchen, Pronomen und Pride-Paraden.
Ich komme nicht nur mit. Ich gehe mit.
Weil es nie zu spät ist, sich für eine Welt stark zu machen, in der alle gesehen und respektiert werden – so, wie sie sind.
Weil ich gelernt habe, wie viel Kraft es kostet, anders zu sein – und wie wenig es braucht, ein Mensch zu sein, der solidarisch ist.
Ich bin nicht queer. Ich bin nicht trans. Ich bin keine Aktivistin. Aber ich bin Ally – Verbündete.
Nicht, weil ich alles verstehe, sondern weil ich offen bin, mich weiterzuentwickeln.
Was manche heute abfällig „woke“ nennen, nenne ich aufmerksam. Wach für Ungerechtigkeit. Wach für Sprache. Wach für Strukturen, die unsichtbar gemacht haben, was sichtbar sein muss.
„Wokeness“ ist für mich keine Mode. Es ist eine Haltung. Sie bedeutet nicht, dass ich keine Fehler mache. Sie bedeutet, dass ich bereit bin zu lernen, zu verlernen, mich zu korrigieren.
Ich denke oft an einen Kollegen zurück, mit dem ich viele Jahre eng zusammengearbeitet habe. Wir verstanden uns gut, wir lachten miteinander, trugen gemeinsam Verantwortung. Und doch wusste ich so wenig von seinem Leben. Erst als er an AIDS starb, erfuhr ich, dass er schwul war.
Ich war erschüttert – nicht nur über seinen Tod, sondern darüber, wie unsichtbar ein Teil seines Lebens geblieben war. Wie wenig Raum es gegeben hatte, offen zu sein. Wie selbstverständlich ich das damals hingenommen hatte. Diese späte Erkenntnis hat mich tief beschämt. Und sie hat etwas in mir verändert.
Heute weiß ich: Wenn Menschen gezwungen sind, sich zu verstecken, kann das tödlich enden. Und Schweigen ist nie neutral – es macht mit schuldig.
Pride ist nicht nur ein Fest – es ist Widerstand.
Es ist die Erinnerung daran, dass Menschen jahrzehntelang für ihr Recht auf Sichtbarkeit kämpfen mussten – und es heute noch immer tun.
Weil das Recht, einfach zu existieren, für viele noch immer nicht selbstverständlich ist.
Ich schreibe das nicht, um Applaus zu bekommen. Ich schreibe es, weil Haltung kein Privileg der Jugend ist – sondern eine Entscheidung.
Nach all den Umbrüchen meines Lebens weiß ich, wie schmerzhaft Ausgrenzung ist – und wie befreiend es sein kann, endlich gesehen zu werden.
Ich sehe es als meine Verantwortung, für eine Welt einzustehen, in der meine Enkel Vielfalt nicht fürchten müssen – sondern als Reichtum begreifen.
Ein Versprechen auf eine Zukunft, in der niemand mehr um das Recht kämpfen muss, einfach so zu sein, wie er oder sie oder they ist.
Und ich? Ich bin dabei. Nicht laut. Nicht perfekt. Aber wach.