Ich war ja gerade zwei Wochen auf Ameland – meinem Seelenort. Dort, wo der Wind Gedanken sortiert und die Ebbe mich daran erinnert, dass Leere auch ein Versprechen sein kann.
Gestern hatte ich Geburtstag. Ich bin 75 geworden.
Heute saß ich bei einer neuen Hausärztin.

Und während ich das schreibe, steht mein Koffer immer noch ungeöffnet im Flur. Der Kühlschrank ist leer – was als Diabetikerin nicht nur unpraktisch, sondern riskant ist. Die Post der letzten Wochen liegt in einem Haufen auf dem Tisch.
Ein Hauch von Überforderung, gemischt mit dem Nachglühen der Inselruhe, wabert durch die Räume.

Am Donnerstag habe ich eine wichtige Verabredung in meiner Wohnung.
Es geht um mein fotografisches Archiv – mein Werk, mein Vermächtnis.
Und das bedeutet: Die Wohnung muss bis dahin aufgeräumt sein, sauber, präsentabel.
Ein Raum, der erzählt: Hier lebt eine, die weiß, was sie will – und wohin mit dem, was bleibt.

Ich möchte auch wieder regelmäßig in die Muckibude gehen.
Nicht für die Figur – die Zeiten sind vorbei.
Sondern weil mein Körper nach dem Unfall vor zwei Monaten weiterhin nicht das tut, was ich von ihm erwarte.
Er verlangt Aufmerksamkeit, nicht Druck. Zuwendung, keine Disziplin.
Und er antwortet – manchmal – mit Bewegung auf Bewegung.

Und dazwischen: dieses Reh.

Der Fokus.

Zart. Hellhörig. Schnell irritiert.

Manchmal kommt es morgens an mein Bett.
Manchmal huscht es davon, sobald ich aufstehe und „müsste“ denke.
Manchmal zeigt es sich, wenn ich meine Hände auf Papier lege, meine Kamera in die Hand nehme oder in der Küche rhythmisch Gemüse schneide.

Und manchmal – ganz ehrlich – bleibt es einfach weg.

Ich habe lange geglaubt, dass ich lernen müsste, dieses Reh zu zähmen.
Es mit Systemen zu locken, mit To-do-Listen zu dressieren.
Aber ich glaube heute: Dieses Reh braucht Vertrauen. Und Raum. Und einen offenen Blick.

Ich bin neurodivergent. Ich lebe Anteile von ADHS.
Das ist nicht neu – aber neu ist, dass ich es mir eingestehe.
Dass ich mir erlaube, anders zu sein – auch in meinen Arbeitsweisen. 

Also sage ich heute zu mir:

Du musst nicht alles auf einmal.
Aber du darfst dir erlauben, den ersten Schritt zu machen.

Vielleicht ist es heute: Den Koffer auszupacken.
Oder: Etwas Gesundes einkaufen.
Vielleicht ist es auch nur: Den Brief öffnen, der seit Tagen daliegt.
Oder: Zehn Minuten Rad in der Muckibude.

Nicht alles muss sein. Aber vieles darf.

Fokus ist kein Zustand. Er ist ein Besuch.
Ein scheues Reh.
Und ich lerne, die Tür einen Spalt offenzulassen.

Kennst du das auch – dass dein Fokus ein Reh ist?
Was hilft dir, wenn du im Durcheinander den ersten Schritt suchst?

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