Ich war 1987 in Moskau – als Fotografin die eine Reportage über die Internationale Frauenkonferenz fotografierte. Es war eine seltsame Zwischenzeit: Gorbatschows Perestroika lag in der Luft, greifbar, aber noch nicht eingelöst. Alles schien sich zu dehnen – zwischen Hoffnung und Misstrauen, Öffnung und Kontrolle. Dieses Bild entstand nicht im Rahmen der Konferenz, sondern auf eigene Faust.

Ich war unterwegs im Kaufhaus GUM, das sich direkt am Roten Platz in Moskau erhebt. Es wurde 1893 fertiggestellt – ein großzügiger, glasüberdachter Passagenbau, entworfen von Alexander Pomerantsev mit der innovativen Dachkonstruktion von Vladimir Shukhov. Mit über 1.200 Geschäften und modernster Technik (elektrisches Licht, zentrale Heizung, eigenes Kraftwerk) wurde es bald zum größten und repräsentativsten Handelszentrum Europas.
Nach der Revolution 1917 wurde es zum „Staatlichen Warenhaus“, dem Modellexperiment des Bolschewismus im Konsumbereich. In den 1930er Jahren wandelte es sich unter Stalin zeitweise in Büro- und Wohnräume um, wurde dann 1953 wieder als Kaufhaus eröffnet. 

Und da stand er. Im Gedränge. Ein alter Mann, aufrecht, mit Stock. Und mit Orden auf der Brust, die nicht zu übersehen waren. Ich verstehe nicht viel von militärischen Orden habe darum im Internet gefragt, was er für welche trägt:
Die beiden sichtbaren Orden/Abzeichen auf seiner Brust verraten mehr über sein Leben, als Worte es könnten:

  1. Medaille „Veteran der Streitkräfte der UdSSR“ (Veteran of the Armed Forces of the USSR):
    – Diese Auszeichnung wurde an Militärangehörige verliehen, die mindestens 25 Jahre treu und ohne Verfehlung gedient hatten
    – Sie steht für langjährigen Einsatz, Disziplin und Loyalität – selten ein Moment unter anderen, sondern ein ganzer Lebensabschnitt.

  2. Möglicherweise der Order of the Red Star oder eine weitere militärische Auszeichnung:
    – Der Order of the Red Star war eine militärische Ehrenauszeichnung, vergeben „für großen Beitrag zur Verteidigung der UdSSR im Krieg und Frieden“ .
    – Auch viele Veteranen bekamen sie für außergewöhnliche Verdienste. 

Diese Orden sprechen von Jahren des Daseins, nicht nur einer Heldentat. Etwas an diesem Mann hat mich innehalten lassen. Seine Erscheinung – würdevoll, gezeichnet, gegenwärtig. Ich war eine Frau aus dem Westen, mit Kamera in der Hand und Fragen im Blick. Und plötzlich stand ich vor einer Lebensgeschichte, die ich nicht verstand, aber spürte. Seine Haltung, seine Kleidung, das Gesicht: ein stilles Archiv. Die Orden erzählten von Dienst, von Vergangenheit, vielleicht von Verlust. Und hinter ihm: Schaufenstersymbole für Wurst, Brot, Alkohol – ein ikonisches Bild sowjetischen Alltags, fast wie ein beiläufiges Bühnenbild. Konsum als Hintergrundrauschen. Aber er: echt.

Ich habe ihn fotografiert, ohne ihn zu bitten, ohne ihn zu dirigieren. Er sah mich. Und ich hatte den Eindruck: Er erlaubte diesen Blick. Ohne Pose, ohne Widerstand. Vielleicht war es nur ein flüchtiger Moment. Aber er hatte Gewicht. Er steht mitten im kommerziellen Gewühl – ohne Pathos, aber präsent.

Inmitten dieses architektonischen und politischen Wahrzeichens GUM verortet das Bild deinen Porträtierten in einem historischen Raum, der zwischen Konsum, Macht und Alltag balancierte. Die Auszeichnungen des Mannes stehen im Dialog mit der Geschichte des GUM – ein Träger der Vergangenheit vor einem Ort, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich inszenierte. Der urbane Rahmen, das Glasdach, die langen Passagen – all das sind Erinnerungsräume, in denen persönliche Biographien und kollektive Geschichte sich begegnen.

Formale Bildanalyse

Die Fotografie ist klar komponiert: Zentralperspektive, Frontalansicht. Der Mann steht direkt vor der Kamera, sein Körper leicht zur Seite gedreht, aber sein Blick begegnet uns geradeaus – wach, fest, fast prüfend. Die Linien der Architektur im Hintergrund, besonders die Fensterrahmen und die Kante der Fassade, geben dem Bild eine ruhige, geometrische Ordnung. Sie verankern die Szene in einem städtischen, institutionellen Raum – dem Moskauer Kaufhaus GUM, das als Symbol für sowjetischen Konsum und westlichen Einfluss gleichermaßen gelesen werden kann.

Kontrastreich und mit feiner Grauabstufung zeigt das Licht die Falten seines Gesichts, das Muster der Kopfbedeckung, die glänzenden Metallflächen seiner Auszeichnungen. Die Kleidung – ein Anzug, die akkurat gesteckten Orden, der Hut auf dem Kopf – spricht von einer anderen Zeit. Die rechte Hand umfasst einen Gehstock, nicht als Requisite, sondern als Teil seiner Körpererzählung.
Besonders auffällig: das Schild im Fenster links oben – Brot, Wurst, Flasche. Ein ikonografisches Symbol sowjetischer Versorgung. Fast wie ein ironischer Kommentar zur Figur des Veteranen: Sein Körper erzählt von Entbehrung, das Schild von Überfluss. Der Mann erinnert daran, dass Geschichte in Gesichtern eingeschrieben ist. Dass es Körper gibt, die erzählen, ohne zu sprechen. Und dass Fotografie, wenn sie nicht nur abbildet, sondern erkennt, solche Spuren sichtbar machen kann.

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