Bonn.  Auf einer Demonstration. Inmitten der Menge: eine Frau, jung, zugewandt, mit einem Aufkleber auf ihrer Jacke: „ICH WILL ALLES.“

Ich erinnere mich genau an diesen Moment. Ich habe sie gesehen – und gespürt, dass dieser Aufkleber mehr war als ein politisches Statement. Er war ein Versprechen. Eine Behauptung. Vielleicht auch ein Aufschrei. Dieser Satz – „Ich will alles“ – hat mich viele Jahre begleitet. Nicht als Dekoration, nicht als Motto, sondern als Spiegel. Ich habe ihn verstanden, getragen, gelebt. Ich wollte alles: Kinder und Kunst. Freiheit und Liebe. Unabhängigkeit und Zugehörigkeit. Gesehen werden – und selbst sehen dürfen.

Aber irgendwann wurde mir klar: Ich konnte nicht alles bekommen. Nicht, weil ich zu wenig wollte, nicht weil ich gescheitert wäre – sondern weil es in einer patriarchalen Gesellschaft für Frauen unmöglich ist, alles zu bekommen. Es war nicht mein Versagen. Es ist das System.

Heute sehe ich diese Fotografie mit einem anderen Bewusstsein. Ich sehe darin nicht mehr das Ideal, sondern den Mut. Die Klarheit. Die Forderung, die stehen bleibt – auch wenn sie nicht erfüllt werden konnte. Ich sehe eine Frau, die etwas verkörpert hat, das bis heute brennt. Und ich sehe mich: die, die damals mit der Kamera unterwegs war. Die genau hinsah. Und nicht wegschauen wollte.

Formale Analyse

Die Fotografie ist frontal, unmittelbar, auf Augenhöhe. Das Gesicht der Frau ist leicht seitlich gedreht, ihr Blick direkt und offen. Eine Locke fällt ihr über die Stirn, der Wind spielt mit dem Haar.
Der Aufkleber bewusst platziert, sichtbar, ohne Zier. Der Satz ist typografisch betont: „ICH WILL ALLES“  auf kräftigem Grund, ergänzt durch das stilisierte Frauensymbol. Der Hintergrund bleibt weich – eine Menschenmenge, unscharf, aber spürbar als kollektiver Raum des Protests. Die zentrale Figur bleibt jedoch klar umrissen: nicht laut, aber unübersehbar.

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