Warum ich heute anders mit meiner Vergangenheit umgehe

Ich habe lange gedacht, dass ich alles fühlen muss, um es zu verstehen. Tief rein. Ganz nah ran. Ohne Filter. Als wäre Nähe dasselbe wie Wahrhaftigkeit. Ist es aber nicht. Manchmal muss man sich entfernen, um etwas wirklich zu sehen. Wie bei diesen riesigen Gemälden im Museum, die aus der Nähe nur Farbkleckse sind – und erst aus drei Metern Entfernung ein Gesicht zeigen.

Ich habe angefangen, Dinge aufzuschreiben, die ich nie laut gesagt habe. Nicht, weil sie ein Geheimnis waren. Sondern weil sie zu dicht an mir dran waren. So dicht, dass sie keinen Namen hatten. Nur Schwere. Jetzt haben sie Sätze. Manche sind holprig. Manche klingen fast beiläufig. Und genau das tut gut.

Es geht nicht darum, alles aufzuarbeiten. Ich bin kein Bauunternehmen. Ich will nicht sanieren. Ich will nur ab und zu aus dem Nebel treten und sagen: „Da war was. Das bin ich auch gewesen.“

Und wenn ich es aufschreibe, ist es nicht mehr so laut in mir. Es liegt da. Außen. Wie ein Stein, den ich aus der Jackentasche nehme und auf den Tisch lege. Er ist nicht weg. Aber ich muss ihn nicht mehr mit mir herumtragen.
Ich merke: Diese Art von Distanz ist kein Verrat an mir selbst. Sie ist Fürsorge. Sie ist ein Raum, in dem ich atmen kann. In dem meine Vergangenheit nicht mehr an mir klebt wie nasse Wäsche, sondern sich setzt. Wie ein Hund, der endlich liegen darf.

Was ich heute lieber tue, als alles fühlen zu müssen

Ich trinke einen Kaffee.
Langsam. Und mit einem Schluck zu viel Milch.
Früher hätte ich das Getränk analysiert.
Die Bitterkeit. Die Temperatur. Den Schaum.
Heute denke ich: warm. angenehm. reicht.

Ich laufe durch meine Wohnung,
sehe die Spuren meines Lebens –
Stapel, Listen, Bücher mit Eselsohren,
die nie wieder zu glatt werden.
Früher hätte ich ein Drama daraus gemacht.
Heute: Ordnung genug, damit nichts umfällt.
Und ein bisschen Chaos, damit ich weiß, dass ich noch da bin.

Ich treffe Menschen.
Nicht viele. Und nicht zu oft.
Ich höre genauer hin als früher.
Aber ich muss nicht mehr alles in mir spüren.
Ich darf verstehen, ohne mitzuleiden.
Und ich darf gehen, wenn mein Bauch es sagt.
Nicht erst, wenn der Kopf hundert Gründe gezählt hat.

Ich schreibe.
Nicht, um mich zu erklären.
Sondern um Platz zu schaffen.
Ich lasse die Sätze stehen wie Möbelstücke.
Manche bleiben. Manche gehen.
Ich muss nicht mehr wohnen in jeder Erinnerung.
Es reicht, wenn sie ein Zimmer hat.

Ich muss nicht mehr fühlen, um wahrhaftig zu sein.
Ich darf atmen. Beobachten.
Ein paar Schritte zurückgehen –
und mir beim Leben zusehen.

Es ist alles da.
Ich bin alles das.
Aber ich bin auch: mehr als das.

Vielleicht ist das der Anfang von etwas Neuem.
Nicht alles muss verarbeitet werden, um heil zu sein. Manchmal reicht es, es bei sich zu lassen – ohne es dauernd zu tragen.

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