Es gibt besondere Momente im Leben einer Fotografin, die weit über das hinausgehen, was ein simples Porträt oder eine Serie von Bildern zu vermitteln scheint. Es sind Momente, in denen man erkennt, dass Fotografie nicht nur ein Handwerk ist, sondern eine Form des Dialogs – ein Gespräch zwischen dem Objektiv und dem Menschen davor, zwischen der Künstlerin und dem Modell. Solche Begegnungen hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Sie sind das Herzstück einer tiefen und kontinuierlichen Beziehung, die über die Zeit hinweg wächst. Eine dieser Beziehungen erlebte ich mit einer Frau, die in den letzten Jahren fünfmal vor meiner Kamera stand – jedes Mal mit einem anderen Anliegen, aber immer mit derselben Kraft und Authentizität.
Unsere erste Begegnung im Jahr 2018 markierte einen Wendepunkt für sie, wie sie mir damals erzählte. Das Thema war „Haare nicht mehr färben“. Diese Entscheidung, die grauen Haare nicht mehr zu verbergen, sondern sie stolz zu zeigen, war ein klares Zeichen für Selbstakzeptanz und Selbstermächtigung. Es war mehr als nur eine ästhetische Wahl – es war ein Akt des Loslassens von Konventionen und Erwartungen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie eignete sich in diesem Kontext besonders gut, da sie die Farbgebung auf das Wesentliche reduzierte und den Fokus auf die Tiefe der Persönlichkeit legte, auf die Linien und Schattierungen, die das Leben gezeichnet hatte. Es war ein Moment des Übergangs, den ich festhalten durfte, und ich wusste bereits damals, dass dies nicht unsere letzte Zusammenarbeit sein würde.
Im Jahr 2021 begegneten wir uns erneut, diesmal im Rahmen zweier Projekte: „Das Göttlich Weibliche“ und „Anonymous“. In „Das Göttlich Weibliche“ wollte ich die Essenz der Weiblichkeit in ihrer ganzen Bandbreite erfassen – die Stärke, die Verletzlichkeit, die Vielschichtigkeit. Diese Frau, die sich mir wieder anvertraute, verkörperte all das. Sie war nicht nur eine Person vor meiner Kamera, sie war eine Verkörperung des Themas selbst. Es war, als ob die grauen Haare, die sie 2018 entschied zu akzeptieren, zu einem Symbol für die Würde und Weisheit geworden waren, die sie nun ausstrahlte.
„Anonymous“ war ein anderes Projekt, das sie in einem ganz neuen Licht zeigte. Hier ging es darum, Identität zu hinterfragen, die Grenzen zwischen dem Selbst und der Außenwelt zu erkunden. In der Anonymität lag eine besondere Art der Freiheit. Sie gab sich meiner Linse hin und ließ mich tief in ihre Seele blicken, ohne dass ihr Gesicht im Vordergrund stand. Das Spiel mit der Tüte war ein faszinierender Kontrast zu den vorherigen Arbeiten.
Ein weiteres Shooting folgte, diesmal aus einem sehr pragmatischen Grund: Sie benötigte Fotos für ihre Homepage. Doch auch hier schwang viel mehr mit als nur der Wunsch nach professionellen Bildern. Die Fotos waren ein Spiegel ihrer beruflichen Identität, ihrer Selbstpräsentation. Auch in diesem Kontext durfte ich Teil eines wichtigen Prozesses sein – des Prozesses, sich nach außen zu zeigen, eine Botschaft zu vermitteln und gleichzeitig authentisch zu bleiben.
Und nun, heute, im Jahr 2024, trat sie erneut vor meine Kamera – diesmal mit einem der schönsten und kraftvollsten Anliegen: Sie wollte ihr Leben feiern. Es war ein Moment der Freude und der Selbstreflexion. Fünf Jahre nach unserer ersten Begegnung sah ich eine Frau, die noch mehr in sich selbst ruhte, die jeden Schritt ihrer Reise nicht nur akzeptierte, sondern zelebrierte. Sie stand da, stolz und stark, nicht um irgendeinen Punkt zu beweisen, sondern einfach um zu sein. Es war eine Feier des Lebens in seiner Fülle, mit all seinen Höhen und Tiefen, mit all seinen grauen Haaren, Falten, aber auch mit der unermüdlichen Lebensenergie, die sie umgab.
Diese wiederholten Begegnungen haben mir gezeigt, dass Fotografie weit mehr ist als das Festhalten eines Moments. Sie ist ein Werkzeug, um Menschen auf ihrer Reise zu begleiten, sie in verschiedenen Stadien ihres Lebens zu dokumentieren und gleichzeitig eine tiefe Verbindung zu schaffen. Für mich, als Fotografin, sind solche Begegnungen ein Geschenk. Sie geben mir die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens zu erkunden und zu verstehen. Jeder Klick der Kamera ist ein stiller Dialog, ein Bruchteil einer Geschichte, die sich über Jahre hinweg entfaltet.
Ich bin unendlich dankbar für solche Momente, in denen sich die Wege meiner Arbeit und das Leben meiner Modelle immer wieder kreuzen. Denn sie erinnern mich daran, warum ich die Fotografie liebe: Weil sie es ermöglicht, die Schönheit des Lebens in all seinen Facetten sichtbar zu machen – und das immer wieder aufs Neue.
Hier geht es zu einer Episode meines Podcast Momentaufnahme, in der ich mich mit Steffie unterhalte.