
Blick aus dem Arbeitszimmer von Le Gras, ist die erste erfolgreich aufgenommene und erhaltene Fotografie der Welt. Sie wurde 1826 von Joseph Nicéphore Niépce im französischen Saint-Loup-de-Varennes hergestellt.
Als die Fotografie im 19. Jahrhundert erfunden wurde, war die Malerei plötzlich mit einer existenziellen Frage konfrontiert: Wenn eine Kamera mit einem einzigen Klick die Welt detailgetreu abbilden kann, welchen Zweck hat dann noch die Malerei?
Mit dieser Frage rangen Künstler:innen und fanden schließlich eine Antwort. Statt der exakten Nachbildung der Realität erkundete die Malerei fortan das, was sie wirklich war: Farbe, Form, Ausdruck, Abstraktion. Die Impressionisten ließen das Licht tanzen, die Expressionisten legten die Seele bloß, die Surrealisten erschufen Traumwelten. Die Malerei befreite sich von der bloßen Wiedergabe der äußeren Welt und wandte sich dem Inneren zu.
Heute stehen wir an einem ähnlichen Punkt. Künstliche Intelligenz kann in Sekunden Bilder generieren, die täuschend echt wirken – oder völlig neue Welten erschaffen. Wieder stellt sich die Frage: Was bleibt dann von der Fotografie? Vielleicht genau das, was damals von der Malerei blieb: ihr Wesen. Doch was ist das Wesen der Fotografie?
- Ist es das Licht?
- Der Moment?
- Die Intention?
- Die Verbindung zwischen Fotograf:innen und Motiv?
- Oder das Vertrauen darauf, dass etwas, das einmal da war, wirklich existiert hat?
Die KI mag perfekte Bilder erschaffen, aber sie kennt keine Berührung. Sie spürt nicht das Zittern in den Händen, wenn ein besonderer Moment bevorsteht. Sie erlebt nicht das leise Knacken des Auslösers in der Stille eines Augenblicks, der nie wiederkommt.Sie kann Stimmungen simulieren, aber keine echte Nähe erzeugen.
Was ich mir daher von Herzen wünsche, ist, dass die Fotografierenden sich durch die Möglichkeiten der KI herausgefordert fühlen, sich wieder auf das, was an der Fotografie das Wesentliche ist, zu besinnen – so wie die Malerei es einst tat. Vielleicht wird Fotografie intimer, direkter, menschlicher. Vielleicht wird sie noch mehr zu einem persönlichen Ausdruck, einem Dialog zwischen Fotograf:innen und Welt.
Die Kamera hat die Malerei nicht getötet. Die KI wird die Fotografie nicht töten. Sie zwingt uns nur, uns neu zu fragen: Was macht die Fotografie zur Fotografie?
Und vielleicht liegt die Antwort nicht in der Technik, sondern in uns:
- In unserem Blick auf die Welt,
- In unserer Art zu fühlen, zu erinnern, zu erzählen.
- In der Sehnsucht, nicht nur zu sehen, sondern zu verstehen.
- In der Fähigkeit, nicht nur Fotos zu machen, sondern Verbindungen zu schaffen – zwischen dem Moment und der Ewigkeit, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen uns selbst und anderen.
- In unserer Fähigkeit, mit einem Foto nicht nur eine Oberfläche zu zeigen, sondern eine Geschichte, eine Erfahrung, eine Wahrheit.
- In der Art, wie wir uns einem Motiv nähern, mit Respekt, mit Neugier, mit Geduld.
- In der Entscheidung, die Welt zu beobachten, sie wirklich zu sehen, statt nur eine schnelle Version davon zu generieren.
Fotografie ist mehr als das Ergebnis – sie ist der Prozess. Sie ist das Sehen, bevor das Bild entsteht. Die Begegnung, bevor der Auslöser gedrückt wird. Der Moment, in dem wir uns entscheiden, was für uns wirklich zählt.
Ist das nicht eine wunderbare Erkenntnis?
Die Fotografie begann mit Porträts, mit dem Versuch, das Wesen eines Menschen in einem Bild festzuhalten. Dann kamen Architektur, Technik, inszenierte Fantasiewelten und somit immer mehr Abstraktion. Und jetzt, wo KI all das scheinbar mühelos erschaffen kann, stehen wir wieder vor der Frage: Was bleibt?
Vielleicht ist es genau das: die Menschlichkeit?
Die echte Berührung zwischen Fotograf:innen und Motiv. Der Ausdruck in einem Gesicht. Der Moment zwischen zwei Menschen, eingefangen in Licht und Zeit. Vielleicht bedeutet diese Zeitenwende, dass wir uns als Fotograf:innen nicht der Perfektion, sondern der Echtheit zuwenden sollten. Statt glatter Oberflächen und generierter Welten, wieder spüren, was es heißt, sich mit einem Motiv auseinanderzusetzen. Den Menschen – mit all seinen Geschichten, Widersprüchen und Wahrheiten – in den Mittelpunkt zu rücken. Menschlichkeit kann nicht berechnet werden. Und genau das könnte der wahre Kern der Fotografie sein.
Auf die Fragestellung gekommen bin ich durch eine Reportage aus dem Jahr 1990 unter der Überschrift: „Soziale Randgruppe“. Mir würde es gefallen, dieses Thema in einer größeren Runde zu diskutieren.