



Wenn ich heute auf meine Fotos aus dem Jahr 1990 blicke, auf die Serie, die ich in der Icklack, einer Einrichtung für obdachlose Frauen in Düsseldorf, fotografiert habe, dann sehe ich Bilder, die ehrlich sind. Sie sind roh, dokumentarisch, in Schwarz-Weiß. Sie sind nicht schön im klassischen Sinn. Und doch, oder gerade deshalb, zeigen sie eine Wahrheit. Die Gesichter der Frauen, ihre Müdigkeit, ihre Verletzlichkeit, ihre Geschichte, die sich in ihren Haltungen, Blicken, in den Schatten ihrer Gesichtszüge abzeichnet.
Auf der Homepage der Icklack sehe ich andere Fotos: fröhliche, bunte Bilder. Sie zeigen Frauen, die lachen und die Hoffnung ausstrahlen. Diese Bilder haben einen klaren Zweck: Sie sollen einladen, sollen Empowerment vermitteln. Sie sollen zeigen, dass hier ein Ort der Möglichkeit ist, eine Brücke in ein anderes Leben. Und genau dieser Unterschied wirft für mich eine tiefergehende Frage auf:
Was ist die eigentliche Aufgabe der Fotografie?
Ist es ihre Aufgabe, die Wahrheit zu zeigen – und wenn ja, wessen Wahrheit? Oder hat sie die Aufgabe, Hoffnung zu schaffen?


Dokumentation oder Inszenierung?
Fotografie bewegt sich immer zwischen diesen beiden Polen. Die dokumentarische Fotografie, so wie ich sie damals betrieben habe, zeigt die Wirklichkeit. Sie ist rau, unangenehm, stellt Fragen, ohne Antworten zu geben. Sie zeigt, was ist, nicht, was sein könnte. Die inszenierte Fotografie, die sich in den bunten Bildern auf der Homepage der heutigen Icklack widerspiegelt, zeigt nicht die Vergangenheit, sondern eine Vision der Gegenwart. Sie erzählt nicht, wie es den Frauen einst ergangen ist, sondern wie sie sich nun sehen sollen: als gestärkt, als Gemeinschaft, als Frauen mit einer Perspektive. Beides hat seine Berechtigung. Doch was ist authentischer? Die Ehrlichkeit der dokumentierten Härte oder das Empowerment durch eine optimistische Bildsprache?


Die grundsätzliche Aufgabe der Fotografie – Dokumentation, Interpretation oder Erinnerung?
Seit vielen Jahren begleitet die Fotografie die Menschheit als Ausdrucksmittel, als Spiegel der Gesellschaft, als subjektives wie objektives Dokument. Die Fotografie ist ein unersetzlicher Bewahrer der Vergangenheit. Sie konserviert Momente, die sonst im Strom der Zeit verloren gingen. Familienalben sind gefüllt mit Fotos, die Geschichten von Vorfahren erzählen, von wichtigen Lebensereignissen und von einer Zeit, die sonst nur noch durch mündliche Überlieferung existieren würde. Historische Fotografien dokumentieren Kriege, Revolutionen und gesellschaftliche Umbrüche. Ohne die Fotografie wäre unser kollektives Gedächtnis lückenhaft und unvollständig. Doch was ist ihre grundsätzliche Aufgabe? Ist sie ein Instrument der Wahrheit oder der Illusion? Soll sie bewahren oder provozieren? Vermitteln oder aufdecken?
Diese Fragen beschäftigen mich, seitdem ich wieder auf diese alte Reportage aufmerksam geworden bin. Ich ging im Mai 1990 in die „Icklack“, mit dem Anliegen, die Lebensrealität obdachloser Frauen zu fotografieren, doch schnell merkte ich: Fotografie ist weit mehr als nur das Festhalten einer Situation in Fotografien. Sie ist Begegnung, sie ist Verantwortung, sie ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, was gesehen und gezeigt wird – und was nicht.


Fotografie als Dokumentation – Ist Sehen schon Verstehen?
Fotografie hat eine lange Tradition als dokumentarisches Medium. Sie zeigt uns, was ist, oder zumindest, was vor der Kamera war. Sie ist Beweisstück und Erinnerung zugleich. Doch ist Sehen schon Verstehen?
Als ich die Frauen in der Icklack traf, wurde mir bewusst, dass eine Fotografie niemals die gesamte Geschichte erzählen kann. Ich sah nicht nur die sichtbare Obdachlosigkeit, sondern auch die innere Verletzlichkeit, die Brüche in den Biografien, die verpassten Möglichkeiten. Ich erkannte mich in ihnen wieder – und zugleich nicht. Warum war ich nicht an ihrer Stelle?
Fotografie kann festhalten, aber sie erklärt nicht. Sie kann dokumentieren, aber niemals eine endgültige Wahrheit liefern. Denn der Blick der Kamera ist nie neutral, und jeder Ausschnitt ist bereits eine Interpretation.
Jedes Bild ist eine Entscheidung. Jedes Foto ist das Ergebnis einer Wahl: Was zeige ich? Was lasse ich weg? Welche Lichtstimmung wähle ich? Welche Perspektive? Die Frauen in der Icklack wollten nicht nur gesehen werden, sondern auch bestimmen, wie sie gesehen werden. Manche verweigerten sich der Kamera ganz. Andere konnten fotografiert werden, weil sie in meinem Blick etwas anderes sahen als in den kalten Augen der Behörden oder der anonymen Passanten auf der Straße.
Diese Erfahrung führte mich zu einer fundamentalen Erkenntnis: Fotografie ist nicht nur ein Fenster zur Welt, sondern immer auch ein Spiegel dessen, der sie aufnimmt. Sie kann niemals vollkommen objektiv sein. Und genau darin liegt ihre Kraft.


Mit der Zeit verändert sich die Bedeutung eines Bildes. Was damals ein aktueller Moment war, wird zur Erinnerung, zur Geschichte, zum Teil eines größeren Kontextes. Wenn ich heute auf meine Fotografien aus der Icklack-Reportage blicke, sehe ich nicht nur die Gesichter der Frauen, sondern auch meine eigenen Fragen, mein eigenes Ringen mit der Verantwortung der Fotografie. Ich sehe meine Unsicherheit, meine Suche nach Antworten. Und ich sehe das Leben dieser Frauen, eingefroren in einem Moment der Begegnung.
Was bleibt von einem Bild, wenn die Erinnerung verblasst? Was bleibt von einem Menschen, wenn niemand mehr seine Geschichte erzählt? Vielleicht ist das die grundsätzliche Aufgabe der Fotografie: Nicht nur zu zeigen, sondern zu bewahren. Nicht nur zu dokumentieren, sondern eine Spur zu hinterlassen. Nicht nur festzuhalten, sondern Fragen aufzuwerfen, die länger bestehen als das Bild selbst.
Fazit: Was ist die Aufgabe der Fotografie?
Letztlich hat Fotografie keine einzelne, allgemeingültige Aufgabe. Sie kann alles sein: Dokumentation, Interpretation, Erinnerung. Sie kann konfrontieren oder trösten, ermutigen oder verstören. Vielleicht ist ihre wichtigste Funktion, dass sie uns zwingt, hinzusehen. Und weiterzudenken. Denn ein Foto ist nie nur ein Foto – es ist ein Echo der Welt, ein Fragment der Zeit, eine Frage an die Betrachter:innen.

In sozialen Medien sehen wir fast ausschließlich die fröhliche Seite des Lebens. Es ist eine Welt voller schöner Dinge, glatter Gesichter, Erfolgsgeschichten. Dort ist kaum Platz für die ungeschönte Wahrheit. Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit – all das passt nicht in den digitalen Schönheitsanspruch. Doch muss Fotografie immer „schön“ sein? Oder ist es gerade die Aufgabe der Fotografie, das Unsichtbare sichtbar zu machen, das Unangenehme in den Fokus zu rücken? Meine Fotografien von 1990 tun genau das. Sie gefallen vielleicht nicht. Sie machen betroffen und sie sind ehrlich.


Ich glaube, Fotografie muss beides können: Hoffnung geben und Wahrheit zeigen. Doch sie darf niemals lügen. Ein Bild, das nur Optimismus inszeniert, kann genauso wenig authentisch sein wie ein Bild, das nur Leid zeigt und jede Perspektive ausblendet. Wahre Fotografie bewegt sich zwischen diesen Welten – sie dokumentiert, sie berührt, sie erzählt, ohne zu verfälschen.
Die Bildsprache auf der Homepage der Einrichtung „Icklack“ ist eine andere als die meiner Reportage. Das hat einen Grund, die Fotos auf der Homepage wollen ermutigen und eine helfende Hand ausstrecken. Wobei ich mich frage, wann obdachlose Frauen die Gelegenheit haben, sich diese Homepage anzusehen?


Die Geschichte dieser Frauen darf nicht vergessen werden. Und genau hier sehe ich die eigentliche Aufgabe der Fotografie: Nicht eine Welt zu schaffen, die es nicht gibt, sondern die Welt, die ist, so zu zeigen, dass wir sie nicht mehr ignorieren können.


Ich habe mir damals, 1990, die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass diese Frauen in dieser Situation sind und ich es geschafft habe, nicht dort zu landen. Diese Frage schwingt vielleicht auch in meinen Fotos von damals mit. Meine Fotografien haben die Frauen nicht nur als „soziale Randgruppe“ gezeigt, sondern als Menschen mit einer Geschichte, einer Vergangenheit, einer Reihe von Entscheidungen, Umständen, Brüchen und Hoffnungen. Vielleicht ist genau das ein wichtiger Punkt: nicht das „Was“, sondern das „Wie“.
Meine Fotografie hat nicht nur dokumentiert, sondern auch eine Art Spiegel aufgestellt – für mich, für andere, vielleicht sogar für die Frauen selbst. Mir ging es nie um reine Ästhetik oder bloßes „Gesehen-werden“. Mein Anspruch war es, hinter die Oberfläche zu schauen. Meine Fotos wollten nicht einfach nur gefallen – sie wollten fühlen lassen, nachdenken lassen, Fragen stellen. Vielleicht ist genau das der Unterschied. Meine Fotografie ist eine Begegnung, eine Fotografie, die nicht nur ein schönes Narrativ schafft, sondern auch Raum für das lässt, was roh, ungeschönt, aber echt ist.
Die Fotos von 1990 zeigen nicht nur, was ich gesehen habe, sondern auch, was es mit mir gemacht hat – diese Konfrontation mit meiner eigenen Verletzlichkeit, mit der dünnen Grenze zwischen „hier“ und „dort“. Es scheint, als ob ich damals bereits gespürt habe, dass der Unterschied zwischen den Frauen in der Icklack und mir nicht einfach zu benennen ist.
Es war kein einziger Moment, keine einzige Entscheidung, sondern vielleicht eine Verkettung von Umständen, kleinen Unterschieden, Gelegenheiten, Unterstützung, inneren Ressourcen – oder auch einfach nur Glück. Und vielleicht ist genau das die Antwort auf meine Frage.
Es gibt keine einfache Erklärung. Keine klare Trennlinie zwischen denjenigen, die „es schaffen“, und denen, die „fallen“.
Auszüge zu einem Text, den ich 1990 zu dieser Reportage geschrieben habe.
Die Icklack ist eine Einrichtung der Diakonie. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten habe ich mich für ein erstes Treffen mit Helma, der Leiterin dieses Hauses, verabredet. Die Icklack, sowohl Name als auch Adresse, ist eine Seitenstraße im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Das Haus macht von außen einen fast klinisch reinen Eindruck. Ich betrete das Haus und fühle mich verunsichert, fühle mich unwohl angesichts der sauber aufgehängten Plakate und der vor sich hin blühenden Grünpflanzen. Die niedrigen Decken des Neubaus lassen mich meinen Kopf einziehen.
Ist die Icklack wirklich eine Zufluchtsstätte, ein Zuhause? Ich treffe Helma in ihrem Büro, dem organisatorischen Herz der Icklack. Formulare und Gesetze sowie unzählige Akten sehe ich zuerst.
Wir verabreden uns für eine Gruppensitzung der Frauen von der ersten Etage, damit diese mich kennenlernen. Die Gruppensitzung findet in der relativ großen Küche dieser Etage statt. Die Frauen sitzen um den Tisch herum, sind neugierig und hören interessiert zu. Zwei Frauen, Carola und Roswitha, entscheiden sofort, dass sie nichts mit mir zu tun haben möchten, auf keinen Fall darf ich sie fotografieren.
Wieder in meinem Zuhause angekommen bin ich sehr betroffen, bestürzt, verwirrt. Die meisten Frauen in der Icklack sind jünger als ich. In mir entsteht ein sonderbares Gefühl. Es mündet darin, dass ich eine Woche lang ziemlich aggressiv meine Fingernägel abkaue. Die Schwächen, die ich an den Frauen beobachte, sind auch meine: Ich habe auch schon versucht, meine Probleme einfach wegzuschlafen, oder durch Alkohol zu unterdrücken. Auch ich fühle mich an manchen Tagen ungeliebt, hänge manchmal nur lethargisch vor dem Fernseher. Ich kenne Selbstzweifel, bin oft unzufrieden oder habe das Gefühl: Ich schaffe nichts. Doch angesichts der obdachlosen Frauen in der Icklack frage ich mich, warum ist es mir gelungen, halbwegs normal zu leben und ihnen nicht? Warum scheine ich an den Aufgaben zu wachsen, die mein Leben mir stellt? Was ist bei ihnen anders gelaufen als bei mir?
Ich erlebe, dass sie sich, aufgrund meines ehrlichen Interesses an ihnen, verändern, aufblühen. Doch wenn ich mich anderen Frauen zuwende oder mich zurückziehe, werden sie schroff und ablehnend. Carola ruft mich zu Hause an und wirft mir Unzuverlässigkeit vor. Ich hätte doch versprochen, wiederzukommen. Natürlich habe ich weitere Besuche zugesagt, doch eine konkrete Terminabsprache gab es nicht. Können diese Frauen akzeptieren, dass mein Interesse an ihnen zeitlich begrenzt sein wird? Ich war ein Ereignis, das ihren Alltag veränderte. Es ist schwer für mich, zu begreifen und zu akzeptieren, dass ich ihre Situation nicht verändern kann, es nicht meine Aufgabe oder meine Verantwortlichkeit ist. Ich bin nur die Fotografin, die an einem Projekt arbeitet, das „Soziale Randgruppe“ heißt.
Mein Text zeigt, dass ich vieles von dem kenne, was diese Frauen erlebt haben: Selbstzweifel, Antriebslosigkeit, das Bedürfnis, Gefühle zu betäuben. Aber irgendwo auf dem Weg gab es für mich genug Halt – genug Kraft oder genug Menschen oder einfach eine andere Richtung – sodass ich nicht auf der anderen Seite dieser unsichtbaren Grenze gelandet bin.
Ich habe mich nicht über die Frauen gestellt, weil ich gespürt habe, dass wir uns ähnlicher sind, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Vielleicht war es auch das, was sie so an meiner Präsenz festhalten ließ – weil ich ihnen das Gefühl gegeben habe, gesehen zu werden, ohne Mitleid, ohne Voyeurismus, sondern mit echter Nähe.
Nun denke ich schon einige Zeit über diese Reportage nach und es entstehen immer mehr Fragen, auf die ich noch keine Antworten gefunden habe.
- Was ist die essenzielle Rolle der Fotografie?
- Warum fotografieren wir überhaupt?
- Was kann und soll Fotografie leisten?
- Welche Verantwortung trägt sie?

Mein Nachdenken über die Bedeutung der Fotografie ist an diesem Punkt noch nicht zu Ende und wird in den folgenden Beiträgen weitergehen.