Als Antony Penrose ein kleiner Junge im England der Nachkriegszeit war, wusste er, dass seine Mutter, Lee Miller, Fotografin war. Sie brachte ihm den Umgang mit ihrer kastenförmigen Rolleiflex-Kamera bei und er begleitete sie, wenn sie andere Künstler in ihrem Umfeld besuchte und fotografierte, darunter Pablo Picasso, Joan Miró und Man Ray. Aber es gab Lücken in Penroses Wissen. Er wusste zum Beispiel nie, dass Miller eine Kriegskorrespondentin der Vogue war, und während des Zweiten Weltkriegs an der Front stand. Sie hat einfach nie über diese Zeit in ihrem Leben gesprochen.
Kurz nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1977 bekamen Penrose und seine Frau Suzanna eine Tochter, Ami. Sie kletterten auf Millers Dachboden und öffneten lange verschlossene Kisten, um Babyfotos von Penrose aufzuspüren, um sie mit ihrem Neugeborenen zu vergleichen. Stattdessen stießen sie auf einen Stapel dünner Seiten mit einem Manuskript mit dem Titel „Die Belagerung von St. Malo“. Er fragte seinen Vater, Roland Penrose, ob der Autor tatsächlich Miller sei. Roland lachte und gab seinem Sohn eine Kopie des Artikels aus einer früheren Ausgabe der “Vogue”.
Penrose musste viel über die vielen Leben seiner Mutter lernen. Seit dem Tag, an dem er den Entwurf von „The Siege of St. Malo“ auf dem Dachboden seiner Kindheit fand, hat Penrose den größten Teil seines Erwachsenenlebens der Verwaltung des bemerkenswerten Erbes seiner Mutter gewidmet. Er ist der Autor einer Biografie über sie aus dem Jahr 1985 und Co-Direktor (zusammen mit seiner Tochter Ami Bouhassane) des Lee Miller Archivs, das sich auf der ehemaligen Farm und dem Haus der Fotografin in East Sussex, England, befindet.
Wer war Lee Miller?
Weltweit bekannt und oft zitiert ist das Foto von Lee Miller in Hitlers Badewanne.
(c) David Edward Scherman (* 1916 in New York City; † 5. Mai 1997 ebenda) war ein amerikanischer Fotojournalist und Herausgeber.
Und nun habe ich mir den Kinofilm *Lee* im deutschsprachigen Raum *Die Fotografin* (2023), in dem Kate Winslet die Hauptrolle spielt, angesehen. Dieser Film konzentriert sich stark auf ihre Kriegsfotografie, die die Grausamkeit des Holocausts und die Befreiung der Konzentrationslager dokumentiert, jedoch die Komplexität ihres Privatlebens vereinfacht.
Die Entwicklung des Films war mehr als acht Jahre lang mit Finanzierungs- und Produktionsschwierigkeiten verbunden. Irgendwann zahlte Winslet, die sich für die Geschichte einsetzte und den Film mitproduzierte, zwei Wochen lang persönlich die Gehälter der gesamten Besetzung und der Crew, als die Finanzierung ins Stocken geriet.
Dieser Film ist nicht “unterhaltsam”, eher informativ. Mich hat er sehr berührt. Kate Winslet war grandios! Und dass Fotos von Lee Miller zu Szenenbildern wurden, fand ich interessant umgesetzt!
Ich bin ja immer noch der Meinung, dass sie als Frau in ihrer Zeit außergewöhnlich war, ihre Fotografie jedoch leicht überbewertet ist. Dass ihre offensichtliche Traumatisierung unbehandelt blieb, macht mich traurig, auch dass sie ihren Ruhm nicht mehr erlebte. Die Komplexität ihrer Persönlichkeit kam in dem Film zu kurz, und ich bin aus tiefstem Herzen neidisch darauf, wen sie alles getroffen hat, das habe ich jedoch aus einem Buch erfahren.
Beim Schreiben über Lee Millers Leben und das Ansehen ihrer Fotos – vor einem Jahr war ich in Hamburg in einer großen Ausstellung ihres Werkes – berührt mich ihre Geschichte auf einer sehr persönlichen Ebene. Als Fotografin, die sich intensiv mit den Themen Verletzlichkeit, Stärke und der Schönheit jenseits gesellschaftlicher Normen auseinandersetzt, sehe ich Parallelen zwischen Millers Kampf, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, und meinen eigenen Erlebnissen als Fotografin.
Die Frauen in meiner Porträtserie: “Der Angst Haare vom Kopf fressen”, die sich nach einer Krebsdiagnose und den Folgen der Behandlung wieder neu finden, haben mich zutiefst beeindruckt. Ich erinnere mich daran, dass ich schon an dem Punkt war, nicht weiter an dieser Serie zu arbeiten, weil ich es einfach nicht ertragen habe. Wie Miller durch ihre Fotografie eine Verbindung zwischen dem Grauen des Krieges und der Normalität des Alltags schuf, so suche auch ich nach der Schönheit, dem Mut und der Resilienz, die sich in den Augen meiner Porträtierten spiegeln – trotz allem, was sie durchlebt haben.
Lee Miller hatte nicht die Chance, ihre Traumata zu bearbeiten und so lasteten diese schwer auf ihren letzten Lebensjahren. Auch ich frage mich oft, wie sich die vielen Geschichten, die ich erzählt bekomme, wenn ich diese Frauen fotografiere, in mir selbst spiegeln. Doch anders als Miller habe ich heute das Privileg, offen über meine Erfahrungen sprechen zu können – etwas, das in ihrer Zeit offensichtlich undenkbar war.
Fotografie hat die einzigartige Fähigkeit, Momente festzuhalten, die oft zu schwer sind, um in Worte gefasst zu werden. Die Kamera kann zwar Distanz schaffen, aber sie nimmt einem nicht die emotionale Last, die diese Fotos mit sich bringen. Und so wird das Festhalten solcher traumatischen Ereignisse zu einer persönlichen Herausforderung, und oft bleibt die Frage, wie ich als Fotografin die Balance zwischen Zeugnis und Selbstschutz finde. Während solche Fotografien wichtig sind, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, müssen wir Fotograf:innen uns mit den emotionalen Narben auseinandersetzen, die das Aufzeichnen dieser Realität hinterlässt.
Ich erinnere mich da an die Reportage aus Brüssel über den Polizeieinsatz gegen die demonstrierenden Frauen. Diese Fotos haben mich so tief betroffen, dass ich sie zunächst nicht zeigen konnte. Ich lief rückwärts, während ich fotografierte, sah den Mut und die Verzweiflung dieser Frauen und die Gewalt, die ihnen entgegenschlug.
Ähnlich stelle ich mir Lee Millers Situation vor, als sie den befreiten Konzentrationslagern gegenüberstand und das Grauen sah und fotografierte. Obwohl meine Erlebnisse mit den Frauen meiner Porträtserie und bei der Reportage in Brüssel nicht mit den Grausamkeiten vergleichbar sind, denen Lee Miller ausgesetzt war, erkenne ich doch eine gemeinsame Herausforderung: Beide Situationen fordern uns als Fotografinnen, Zeuginnen von realem Schmerz und Ungerechtigkeit zu sein und diesen in Fotografien festzuhalten. Die Kamera ist kein Schutzschild, sondern oft ein Instrument, das die Intensität der Erfahrungen verstärkt.
Ich habe das Glück, in einer Zeit zu leben, in der es möglich ist, über diese inneren Konflikte zu sprechen und sie zu verarbeiten – ein Privileg, das Lee Miller nicht hatte. In meiner Arbeit sehe ich die Kraft der Fotografie, sowohl für mich selbst als auch für die Menschen, die ich porträtiere. Doch diese Kraft bringt Verantwortung mit sich: die Verantwortung, die Balance zwischen Zeugnis und Selbstschutz zu finden. Ich frage mich oft, wie viel ich ertragen kann und welche Auswirkungen das, was ich in Fotos festhalte, langfristig auf mich haben wird.
Brüssel 1983 – Foto: Beate Knappe
Die Fotos, die ich in Brüssel aufnahm, haben mir schließlich einen ersten Preis eingebracht, und die Serie der an Krebs erkrankten Frauen wird als Empowerment für betroffene Frauen verstanden, so wie ich es mir dachte. Das ist wohltuend, keine Frage. Im Film gibt es eine Szene, in der Lee Miller in die Redaktion von Vogue stürmt und beginnt, ihre Negative zu zerschneiden, weil ihre Fotos in der Ausgabe für England nicht gedruckt worden waren. Ich habe die Enttäuschung, die Lee Miller empfunden haben muss, körperlich gespürt, obwohl ich nie so weit gehen würde, meine Negative zu zerschneiden. Ihre Fotos wurden dann in der amerikanischen Vogue gedruckt.
Lee Miller (1907–1977) ging beruflich wie privat ihren eigenen Weg und scherte sich nicht um Konventionen. liefert in diesem Buch, das auch die Vorlage für das Drehbuch zum Film war, interessante Fakten zu ihrem Leben.
Im Jahr 1927 zog der Zeitschriftenmagnat Condé Montrose Nast ein 19-jähriges Mädchen aus Poughkeepsie, New York, aus dem Verkehr in Manhattan in die Welt der Haute Couture und des Modelns. Nur zwei Jahre später reiste sie nach Paris und gab sich nicht damit zufrieden, ein statisches Bild auf Zeitschriftencovern zu sein. Sie suchte Man Ray, den dadaistischen und surrealistischen Fotografen, als ihren Mentor aus.
1934 heiratete Miller einen ägyptischen Geschäftsmann namens Aziz Eloui Bey und zog nach Kairo, wo sie ihre Fotografie ohne den finanziellen Druck ihrer früheren Karriere fortsetzte. Doch das elegante, häusliche Leben ließ sie unruhig, und so reiste sie zurück durch Europa – Paris, den Balkan, das ländliche England – dieses Mal mit Penroses Vater Roland.
Miller wurde 1942 von der US-Armee als Fotografin akkreditiert, sie berichtete jedoch hauptsächlich über die Arbeit von Frauen, nicht über den Kampf. Bis zur Belagerung von St. Malo, einer Küstenstadt in Frankreich, im Jahr 1944 hielt sie sich an Szenen wie Krankenschwestern auf einem Stützpunkt in Oxford, England. Als die Vogue-Redakteure Miller beauftragten, über die Befreiung von St. Malo zu berichten, gingen sie davon aus, dass die Stadt bereits von den Alliierten befreit worden war. Aber die Kämpfe hatten gerade erst begonnen. Obwohl sie nicht für die Berichterstattung über Kampfhandlungen akkreditiert war, war Miller die einzige Reporterin, die bei den Truppen stationiert war. Der Artikel, den Miller anschließend für die Vogue schrieb (derselbe, den Penrose etwa drei Jahrzehnte später auf dem Dachboden seiner Mutter entdeckte), ist ein lebendiger, offener und subjektiver Bericht über die Belagerung, von den Schüssen bis zu den langen Wartezeiten in den hinteren Reihen.
Lee Miller und ihr enger Begleiter David E. Scherman, Korrespondent der Zeitschrift Life, gehörten zu den ersten Pressevertretern, die am 30. April 1945 das gerade befreite Konzentrationslager Dachau betraten. Die Szenen, die sie dort sahen, widersprachen der Realität. Zusammen mit ihren Fotos und ihrem Artikel schickte Miller ihrem Redakteur nach London ein Telegramm: „Ich flehe Sie an, zu glauben, dass das wahr ist.“ Vogue veröffentlichte ihre Fotos des Lagers, die sie mit der Banalität des deutschen Lebens in den umliegenden Dörfern kontrastierte, und betitelte die Strecke mit „Believe It“.
1956 gab sie den Journalismus endgültig auf und beschloss stattdessen, eine Ausbildung zur Gourmetköchin zu machen und Rezepte zu veröffentlichen. Sie war offensichtlich schwer traumatisiert von dem was sie gesehen und fotografiert hatte, doch warum sie sich keine Hilfe suchte ist mir unverständlich. So war sie in den letzten Jahren ihres Lebens schwer depressiv und alkoholkrank. Erst nach ihrem Tod entdeckte Penrose ihre bemerkenswerte Geschichte und begann, sie mit der Welt zu teilen.