Gerade hatte ich eine interessante Diskussion mit einer Kollegin, die Frauen mit ihrer Fotografie empowern möchte. Ein lobenswertes Vorhaben. Sie macht Fotografien in einer eher erotischen Bildsprache. Mir ist zum wiederholten Male eine Fotografie aufgefallen, auf der eine Frau lasziv von einem Bett hängend liegt. Als ich äußerte, dass ich es für problematisch halte, solche Fotos weiterhin zu veröffentlichen – gerade im Kontext des Vergewaltigungsfalls Pélicot in Frankreich – antwortete sie mit einem Vorwurf an mich. Ihrer Meinung nach war meine Forderung nichts anderes als Victim Blaming.
Victim Blaming ist das Zuschreiben von Schuld an Betroffene von Gewalt.
Dieser Vergleich hat mich tief irritiert – nicht nur, weil er an meinem Anliegen vorbeigeht, sondern weil er ein grundlegendes Missverständnis offenbart.
Dominique Pélicot, 71, ist angeklagt, geständig und inzwischen auch verurteilt, über Jahre hinweg seine Frau Gisèle Pélicot betäubt und im Zustand wehrloser Bewusstlosigkeit zahlreichen Männern zur Vergewaltigung zur Verfügung gestellt zu haben. In Deutschland veröffentlichte Rammstein-Sänger Till Lindemann 2020 Texte, die K.-o.-Tropfen als Mittel für sexuelle Gewalt verherrlichen.
Das zeigt, wie tief verwurzelt diese Haltung in unserer Gesellschaft ist. Rubens sorgte im 17. Jahrhundert dafür, dass sich die Frau »im Schlaf« besonders lasziv biegt. Er wusste, was dem männlichen Publikum gefiel. Wer durch den Pariser Louvre geht, wird auch das Motiv der dahin gegossenen, ohnmächtigen Frau finden.
Die Tradition, Frauen als laszive, passive oder wehrlose Figuren darzustellen, spiegelt ein jahrhundertealtes Machtgefälle wider. Wenn wir diese Ästhetik übernehmen, ohne sie zu hinterfragen, setzen wir ungewollt diese Tradition fort – und verstärken sie in einem modernen Kontext.
Gisèle Pélicot musste darum kämpfen, die Videos vor Gericht zuzulassen, die ihre eigene Vergewaltigung dokumentieren. Pélicot bestand darauf, dass nur durch das Bildmaterial die volle Grausamkeit der Taten erkennbar wird. Dieser Fall offenbart ein grundlegendes Problem: die Weigerung, die Realität sexualisierter Gewalt in vollem Umfang anzuerkennen. Diese Verleugnung schützt die Täter und nicht die Opfer.
Nun ist der Fall Pélicot sicher ein extremes Beispiel. Der Kern meines Arguments war nie, Frauen die Freiheit abzusprechen, sich so zu zeigen, wie sie möchten. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt davon, dass Frauen das Recht haben, sich in all ihren Facetten – sinnlich, stark, verletzlich oder selbstbewusst – darzustellen. Meine Forderung richtet sich nicht gegen die Frauen vor der Kamera, sondern an die Fotografinnen, bei den Fotografen versuche ich es erst gar nicht.
Ein Foto kann für die Frau vor der Kamera empowernd sein – und gleichzeitig die gesellschaftliche Vorstellung bedienen und die Frauen auf ihre Sexualität reduzieren. Diesen Widerspruch müssen wir als Fotografinnen aushalten und reflektieren. Wir sollten uns fragen, welche Botschaften unsere Fotos transportieren – gerade in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem sexualisierte Gewalt tief verwurzelt ist. Der Fall Pélicot zeigt, wie wichtig Bilder sind, um Gewalt sichtbar zu machen. Wenn wir solche Fotos schaffen, wie die von mir angesprochenen, tragen wir als Fotografinnen Verantwortung für die Wirkung dieser Fotos. Sie existieren nicht im luftleeren Raum, sondern wirken in einer Welt, in der Frauen nach wie vor mit Objektifizierung, sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch konfrontiert sind.
Victim Blaming bedeutet, Betroffene von Übergriffen für das, was ihnen widerfährt, verantwortlich zu machen. Meine Forderung ist das Gegenteil davon: Sie richtet sich an die Machtstrukturen, die solche Übergriffe begünstigen – und an die Verantwortung, die wir als Fotografinnen in diesen Strukturen tragen.
Bilder prägen gesellschaftliche Vorstellungen
Fotografie ist nicht neutral. Bilder formen unser Denken, sie haben Botschaften, die wir verinnerlichen. Erotisierte Darstellungen von Frauen sind ein fester Bestandteil unserer Bildkultur, und oft bleiben diese Bilder nicht beim Empowerment der Frauen stehen, sondern bedienen alte Klischees und Machtverhältnisse. Künstlerische Freiheit bedeutet nicht, blind für die Wirkung der eigenen Werke zu sein. Sie bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, wie diese Werke in einer patriarchal geprägten Gesellschaft gelesen und verstanden werden können. Wenn wir als Fotografinnen diese Botschaften immer wieder reproduzieren, ohne sie zu hinterfragen, stellen wir uns blind gegenüber den Auswirkungen, die sie auf unsere Gesellschaft haben können. Meine Forderung, solche Fotos nicht mehr zu veröffentlichen, ist daher kein Verbot – sondern ein Appell zur Reflexion:
- Welche Botschaften senden wir aus?
- Wer profitiert von diesen Bildern?
- Und welche Strukturen unterstützen sie möglicherweise, wenn wir sie unkritisch verbreiten?
Die Reaktion meiner Kollegin zeigt, wie künstlerische Freiheit und Verantwortung gegeneinander ausgespielt werden können. Doch diese beiden Konzepte sind kein Widerspruch – sie gehören zusammen. Kunst kann frei sein, und sie kann gleichzeitig bewusst mit ihrer Wirkung umgehen. Es ist keine Einschränkung der Freiheit, wenn wir uns fragen, ob unsere Arbeit ungewollt Botschaften verstärkt, die anderen schaden. Es ist vielmehr eine Erweiterung unserer Perspektive – und letztlich ein Beitrag zu einer Kunst, die nicht nur schön, sondern auch bedeutsam ist. Es geht nicht darum, dass ich vorschreiben will, was fotografiert werden darf und was nicht. Mir geht es darum, zu erkennen, dass jedes Bild eine Botschaft sendet – und wir die Verantwortung für diese Botschaft tragen.
Die Gleichsetzung meiner Forderung mit Victim Blaming ist daher nicht nur ein Missverständnis, sondern auch eine Verkennung meiner Argumentation. Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen an Frauen, sondern um einen bewussten Umgang mit der Macht der Bilder – und das schulden wir nicht nur unserem Publikum, sondern auch uns selbst.