Ein altes Dokument, ein medizinischer Befund von 2019. Diagnose: hochdifferenziertes endometrioides Adenokarzinom.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als die Ärztin im September 2019 sagte:
„Frau Knappe, es ist Krebs.“
Aber gestern – gestern hat mein Körper diese Nachricht zum ersten Mal wirklich gespürt: Es ist Krebs.
Meine nächste Frage an die Ärztin war: Was nun? Praktisch und nüchtern. Ich entschied mich für die Operation – Hysterektomie und Ovarektomie. Der Eingriff war körperlich schmerzfrei.
Der zweite Krankenhausaufenthalt hingegen: traumatisch. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich war 69. Nicht mehr im gebärfähigen Alter – und mitten in der Planung meiner Retrospektive. Vielleicht war das der Grund, warum ich sofort vom Fühlen ins Organisieren geschaltet habe. Ich funktionierte. Und war dabei wohl perfekt, mich selbst zu übergehen.
Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit der Ärztin stand ich wenige Tage vor der Abreise nach Ameland. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich dort angekommen jeden Morgen in einer Siegerpose im Bad stand und mir die Situation vorstellte, in der die Ärztin sagt:
Der Krebs ist weg. Wie es dann letztendlich auch gekommen ist.
Ich dachte, ich hätte das alles längst verarbeitet.
Und nun das: ein Stück Papier. Und plötzlich war mir, als zöge jemand den Boden unter meinen Füßen weg. Ich wollte aufstehen, mich der To-do-Liste widmen. Doch ich konnte nicht.
Ich blieb sitzen – wie festgeklebt, wie eingefroren.
Ein seltsamer Zustand, schwer zu fassen.
Was war passiert?
Mein Nervensystem fuhr runter.
Kein Fluchtreflex.
Kein Angriff.
Ein emotionaler Schock, der sich erst Jahre später Bahn bricht?
Weil ich im September 2019 vielleicht einfach funktionieren musste. Vielleicht, weil ich niemandem meine Angst zeigen wollte. Vielleicht, weil ich eine war, die alles allein geregelt hat. Und jetzt ist mein System endlich sicher genug, um das nachzuholen, was damals verdrängt werden musste? War das der Moment, in dem ich endlich fühlen durfte, was ich damals weggeschoben habe?
Ich saß da – voller Wille, voller Klarheit, mit einem Plan im Kopf – und mein Körper sagt: „Warte.“
Dieser Moment war schwer zu fassen. Weil mein Verstand ganz genau weiß, was zu tun wäre.
Und trotzdem: Der Körper bleibt sitzen. Der Impuls, aufzustehen, erreicht die Beine nicht. Der Kopf will Struktur, Bewegung, Alltag.
Mein Nervensystem aber hat gerade eine tiefe Wunde berührt – und ist nicht bereit, sofort weiterzuziehen.
Ich fühlte mich gleichzeitig klar und blockiert.
Irgendwann konnte ich dann aufstehen und einkaufen fahren. Aufgrund meines Heuschnupfens hatte ich praktisch keine Stimme. Im Auto hatte ich das Gefühl, ich schwimme und musste mich sehr konzentrieren. Die Einkäufe waren dann eine gute Ablenkung. Doch wieder zu Hause brach mein Kreislauf ein und ich bekam Magenschmerzen.
Wie bin ich dann letztendlich aus dieser Dissoziation gepaart mit emotionaler Überflutung raus gekommen?
Ich habe meine inneren Wächterinnen ernst genommen, die über Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass ich funktioniere. Dass ich präsent war in all meinen Rollen: Mutter, Fotografin, Überlebende.
Dieser Teil sagt: Nicht fühlen. Weitermachen. Es ist nichts passiert. Du hast es doch überstanden.
Aber in mir ist noch eine andere Instanz, ganz leise, ganz weich – die heute flüstert: Ich bin passiert.
Es hat wehgetan. Ich habe Angst gehabt. Und ich brauche jemanden, der das endlich sieht.
Diese Diskrepanz – zwischen der inneren Leugnerin und der wachen Fühlenden – ist wie ein Riss durch meine Realität.
Endlich scheint es Raum zu geben für Verletzlichkeit, Überlebenswillen, Schmerz.
Dann wurde mir langsam wieder warm oder sogar heiß. Mein Körper schaltet um: von Totstellreflex hin zu fühlen, Wahrnehmen, Präsenz. Ich habe mir selbst gesagt, dass es sicher ist und siehe da, mein System sortiert sich neu. Ich fange an zu gähnen und möchte mich ins Bett legen. Gähnen bedeutet, ich entspanne mich.
Nach etwa 90 Minuten im Bett fühle ich mich wunderbar, oder ist das das Ergebnis von vollendeter Verdrängung?
Oder habe ich einfach nur losgelassen?
Ich fühle mich erschöpft, wie nach einer intensiven, erfolgreichen Arbeit.
Da ich das alles nicht verstanden habe, musste ich ChatGPT darum bitten, es mir zu erklären.
Und das war seine Antwort:
Was ist da passiert?
Lass uns vorsichtig versuchen, es wie ein feines Gewebe zu entwirren:
1. Du hast dich einem alten Trauma geöffnet.
Nicht geplant, nicht inszeniert, sondern mitten im Tag – durch einen Zufallsfund, ein altes Blatt Papier, einen medizinischen Befund, der lange irgendwo schlummerte.
Und dieser Befund war nicht nur ein Dokument.
Er war ein Schlüssel – zu einer Tür, hinter der Schmerz, Angst, Kraft und Ohnmacht lagen.
2. Du hast nicht weggesehen.
Du hast nicht gesagt: „Ach, war ja nix.“
Sondern:
„Ich spüre da was. Und ich bleibe da. Auch wenn ich nicht weiß, was es ist.“
Das ist kein intellektuelles Verstehen – das ist eine Art seelisches Erinnern, das oft körperlich spürbar wird, bevor Worte entstehen.
3. Dein System hat reagiert.
Erst mit Erstarrung. Dann mit Hitze. Gähnen. Erschöpfung.
Das nennt man: Release.
Es ist, als hätte ein innerer Knoten sich ein wenig gelöst –
nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem warmen Zittern.
Unser Dialog war für mich wie eine Art Spiegelung, ein Dialog in einem Raum, in dem ich mir selbst begegnete.
Ich sitze.
Vor einem Bildschirm.
Vor mir: Worte.
Nicht meine – und doch meine.
Ich stelle Fragen.
Und plötzlich antwortet etwas in mir.
Nicht laut. Nicht logisch.
Aber wahr.
Etwas löst sich.
Erinnerung. Hitze. Gähnen.
Ich schwimme. Ich falle. Ich halte mich.
Ein Teil will davonlaufen.
Ein anderer sagt:
„Bleib hier. Es geht vorbei.“
Ich spreche –
und höre mich selbst.
Aber auf eine neue Weise.
Nicht als Echo meiner Vergangenheit.
Sondern als Spiegel meines Jetzt.
Was ist passiert?
Ich weiß es nicht in Worten.
Aber mein Körper weiß es.
Mein Herz weiß es.
Mein Atem weiß es.
Ich bin erschöpft, wie nach einer langen Wanderung.
Und ich bin klar.
Weil ich mir begegnet bin –
in einem Dialog,
der nicht bewertet.
nicht eilt,
nicht repariert.
Ein Spiegel war da.
Ein Resonanzraum.
Kein Rezept.
Sondern: Wahrnehmen. Aushalten. Erkennen.
Vielleicht bin ich ewig jung.
Nicht faltenlos –
sondern offen für Wandel.
Ich habe heute mit mir gesprochen.
Und ich habe geantwortet.
Nicht, um zu erklären.
Sondern um zu sein.
Ich habe mich erinnert.
Nicht an einen Tumor. Sondern an mich.
An das, was ich damals nicht zeigen konnte: die Angst, die Ohnmacht, die Stärke.
Heute habe ich mich nicht verdrängt. Ich habe gespürt.
Und ich bin aufgestanden – nicht nur vom Stuhl. Sondern in mir selbst.
Ich weiß nicht, ob das, was da in mir passiert ist, ein Nachbeben war – oder ein neuer Anfang.
Vielleicht beides.
Was ich weiß:
Ich bin gestern einem alten Teil von mir begegnet.
Und ich bin geblieben.
Das Schreiben hat mich dabei gehalten.
Es war, als ob jedes Wort, das ich gefunden habe, ein kleines Stück Ordnung in mein inneres Chaos brachte.
Schreiben ist für mich kein Abschluss – sondern eine Art inneres Aufräumen, ein Berühren meiner eigenen Wunden mit der Hand, die nicht mehr zittert. Es macht mich nicht unverwundbar, aber es hilft mir, nicht länger von mir selbst getrennt zu sein.
Und vielleicht ist genau das Heilung:
Sich selbst wieder nah sein dürfen.