Ich war lange Zeit so krank, dass ich im Bett liegen musste, da ich weder sitzen, stehen noch laufen konnte. Was machst Du in so einer Situation? Ich habe mir z. B. Serien angeschaut – Vertrautes, das beruhigte, und Neues, das mir die Zeit strukturierte. Ich habe mir ein Buch vorlesen lassen. Dann kam eine depressive Phase dazu, die ich mir nicht erklären konnte, der ich ausgeliefert war. Ich begann, auf meinem Handy Spiele zu spielen.
Ein Wisch. Ein Tippen. Ein Spiel öffnet sich. Bei mir waren es Autos, die eingeparkt werden mussten, Personen, die transportiert werden wollten, Schrauben, die sortiert werden mussten und Fäden, die entwirrt werden wollten. Kleine Belohnungen. Kurze Ruhe.
Dieses Spiel wurde zu einem leisen Begleiter – still genug, um mich nicht zu überfordern, klar genug, um mir das Gefühl zu geben: Ich kann etwas tun. Es versprach mir Ordnung in einer Zeit, in der mir die innere Orientierung fehlte.
In diesem Beitrag erzähle ich, wie aus einem scheinbar harmlosen Fadenspiel ein Spiegel wurde: für meine Sehnsucht nach Struktur, für innere Knoten, für die Frage: Was hält mich eigentlich – und was hält mich fest?
Viele dieser Spiele arbeiten mit einem weiteren Trick: FOMO – Fear of Missing Out. Die Angst, etwas zu verpassen. Tägliche Logins, limitierte Events, Belohnungsketten. Das Spiel sagt es dir nicht laut – aber es inszeniert es. Sanft. Beständig. Je öfter du spielst, desto mehr passt sich das Spiel dir an. Desto wertvoller wirst du – nicht als Mensch, sondern als Zahl
Ich schreibe über digitale Muster, psychologische Mechanismen – aber auch über den Moment, in dem ich aufgehört habe. Nicht, weil ich es musste. Sondern weil ich zurückgefunden hatte in meine „Normalität“.

Was solche Spiele so wirksam macht
Diese Spiele sind keine Zufallsprodukte. Sie sind fein gebaut – mit psychologischer Präzision. Sie nutzen einfache Aufgaben, klare Strukturen und sofortige Belohnungen. Ein Level geschafft, ein Knoten gelöst – Dopamin. Kontrolle in Miniatur.
Das nennt man „Persuasive Design“ – Gestaltung, die Verhalten beeinflusst. Gepaart mit Gamification – dem Einbau von Spielmechanismen in den Alltag – entsteht ein stiller Sog. Man spielt nicht nur. Man bleibt. Nicht, weil man will, sondern weil das Spiel einen hält.
Was die Gratis-Zeitung im Hausflur mit dem Fadenspiel am Handy gemeinsam hat
Beide geben dir etwas – scheinbar umsonst. Ein Spiel. Ein Text. Ein kleiner Moment der Ablenkung. Beide sind dafür gemacht, dich zu binden, nicht zu befreien. Die kostenlose Zeitung wünscht sich deine Augen, damit du Werbung siehst. Die App erwartet deine Finger, damit du spielst, klickst, bleibst. Beide funktionieren nur, wenn du verweilst. Wenn du reagierst. Wenn du dich nicht abwendest. Wenn du Teil wirst – nicht nur der Oberfläche, sondern des Systems dahinter. Es geht nie nur um das, was du bekommst. Es geht auch um das, was du gibst – ohne es zu merken.
Wie ein kostenloses Spiel Geld verdient
- Du spielst – und erzeugst Daten Jede Handlung wird erfasst: Dauer, Häufigkeit, Entscheidungen, Reaktionen. Das Spiel liest dich – wie ein stiller Sensor.
- Deine Daten werden ausgewertet und verkauft Nicht dein Name, aber dein Muster: dein Verhalten, dein Rhythmus. Diese Profile sind Gold wert – für Werbetreibende, Plattformen, Datenmärkte.
- Werbung wird eingeblendet – und bezahlt Du klickst? Du bleibst? Du siehst etwas? → Das bringt Geld. Für jedes Banner, jeden Spot, jede Einblendung. Du zahlst nicht mit Geld. Du zahlst mit deiner Zeit, deiner Aufmerksamkeit, deiner Erschöpfung.

Ich dachte, ich kontrolliere etwas. In Wahrheit wurde ich geführt – nicht grob, sondern freundlich. Das Spiel war ein Spiegel. Harmlos. Wiederholbar. Still. Es zeigte mir, was ich lange nicht anschauen konnte – im Tun, nicht im Denken.
Ich sehe Linien. Sie überlagern sich. Ein Durcheinander, das ich sortieren will. Dann erkenne ich: nicht draußen – sondern in mir.
Ein Spiel, das vorgibt, zu beruhigen, zu fokussieren. Und vielleicht tut es das. Für einen Moment. Doch was beruhigt da wirklich? Das bunte Layout? Das Geräusch beim Entknoten? Oder die Illusion: Ich habe wieder Kontrolle?
Vielleicht ist es die stille Hoffnung: Wenn ich diese Fäden löse, lösen sich auch die in meinem Kopf?
Denn warum zieht mich gerade dieses Spiel so magisch an? Vielleicht, weil es etwas in mir spiegelt: Mein inneres Durcheinander. Die Überlagerungen von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen. Die Unordnung im Kopf, die zu groß scheint, um sie auf einmal zu erfassen. Also beginne ich, auf dem Display zu sortieren. Und während die Linien sich entwirren, entsteht für einen kurzen Moment das Gefühl von Ordnung. Von: „Ich kann das.“
Doch je länger ich spiele, desto deutlicher spüre ich: Es ist kein harmloser Zeitvertreib. Es ist ein präziser Mechanismus, der mich bindet – nicht emotional, sondern algorithmisch. Jede Minute, die ich in dieser App verbringe, erzeugt einen Wert – für Entwickler, Plattform, Werbenetzwerk. Während ich die Fäden löse, verstricke ich mich in einem anderen Netz.
Ich weiß das. Und spiele trotzdem. Weil es hilft. Weil es beruhigt. Weil es manchmal die einzige Form ist, Gedanken zu sortieren. Weil die Realität manchmal zu laut ist – und die Linien auf dem Display still.
Vielleicht war das Spiel ein Anker. Ein Übergangsobjekt. Eine leise Zwischenform von Handlungsmacht. Nicht falsch – aber auch nicht frei.
Und trotzdem frage ich mich: Was bräuchte ich stattdessen? Was gäbe mir ähnliche Ruhe – ohne mich dabei zu verlieren? Was könnte ich berühren, das mich zurück zu mir führt – ohne Werbung, ohne Klicks, ohne Zweck?
Vielleicht ist die Sucht nach dem Spiel auch eine Sucht nach Übersicht. Nach Beruhigung in einer Welt, die ständig verknotet wirkt. Vielleicht liegt in diesem digitalen Spiel ein echtes Bedürfnis: nach Halt. Nach Rhythmus. Nach Bedeutung.
Die Frage ist nur:
Löse ich mich – oder verliere ich mich? Und vielleicht beginnt Aufhören damit, die Frage überhaupt zu stellen.