… Leben mit ADHS und einem anderen Zeitgefühl
Ein persönlicher Erfahrungsbericht zwischen Dringlichkeit, Verschwimmen und dem Wunsch, irgendwann einfach anzukommen.
⏳ Zeit – ein scheinbar neutrales Maß
Die Uhr misst Sekunden, Minuten, Stunden – gleichmäßig, zuverlässig, objektiv. Und doch habe ich oft das Gefühl, dass Zeit für mich anders vergeht als für andere. Sie zieht sich oder stürzt über mich hinweg. Sie ist oft zu wenig, selten genau richtig. Und manchmal verschwindet sie ganz.
Seit ich mich mit dem Thema ADHS im Erwachsenenalter beschäftige, beginne ich zu verstehen, dass mein Verhältnis zur Zeit nicht gestört, sondern anders ist. Nicht falsch – aber oft unvereinbar mit den Anforderungen der Außenwelt.
🌀 Entweder jetzt – oder nie
Ich kenne zwei Zeitformen:
JETZT – und nicht-jetzt.
Wenn mich etwas wirklich fesselt – ein Text, ein Bild, ein Gedanke –, dann vergesse ich alles um mich herum. Ich vergesse, zu essen, Termine, dass ich noch einkaufen wollte. Und: Ich vergesse, dass ich es später noch tun könnte. Denn für mein inneres System existiert kein später. Nur das Jetzt – das hell aufleuchtet oder gar nicht da ist.
🧠 Das Gehirn auf der Überholspur – oder im Leerlauf
Manchmal schiebe ich Dinge tagelang vor mir her. Ich denke: „Ich habe ja noch Zeit.“
Aber diese Zeit löst sich auf wie Nebel. Und plötzlich: Panik. Dann rast alles, und ich versuche in einer halben Stunde, was andere über Tage verteilen. Es ist kein Aufschieben aus Faulheit. Es ist eine andere Taktung. Mein Gehirn braucht eine emotionale Dringlichkeit, um ins Handeln zu kommen – oder etwas, das mich magnetisch zieht.
🕰️ „Warum bist du nicht einfach früher aufgestanden?“
Weil ich nicht in linearen Blöcken funktioniere. Weil mein Schlafrhythmus, meine Aufmerksamkeit, mein Impuls- und Gefühlsleben oft asynchron zum Tag verlaufen. Weil ich ständig versuche, mich zu sortieren in einem System, das nicht für Menschen wie mich gemacht ist. Und trotzdem: Ich bin nicht unorganisiert. Ich bin nicht undiszipliniert. Ich bin neurodivergent. Ich denke anders. Ich plane anders. Und ich empfinde Zeit wie einen Ozean – nicht wie einen Kalender.
🛒 Und dann: Ich wollte ja noch einkaufen …
Solche Dinge – ganz Alltägliches – geraten oft ins Hintertreffen. Nicht aus Desinteresse, sondern weil die Verbindung zwischen Wollen und Tun bei ADHS manchmal brüchig ist. Ich weiß, was ich brauche. Ich will es auch tun. Aber mein Gehirn vergisst, den Impuls festzuhalten, wenn die nächste Welle kommt.
Und so kann ein Tag vergehen zwischen Schreiben, Erinnern, innerer Tiefe – und plötzlich ist es zu spät, um noch Milch zu kaufen.
Fazit: Zeit ist nicht das Problem – das Maß ist es.
Ich beginne, mir meine Zeit neu zu erlauben. Nicht als starres Raster, sondern als lebendigen Rhythmus. Manchmal gelingt es mir, meine innere Uhr mit dem Außen zu synchronisieren. Oft nicht. Aber ich finde Wege.
Heute war wieder so ein Tag: Ich habe an meiner Autobiografie gearbeitet, dann kam ein Termin, den ich ganz knapp geschafft habe, der nächste fiel dann aus – und ich war erleichtert. Weil ich endlich Raum hatte für das, was wirklich in mir drängte. Und vielleicht fahre ich jetzt noch einkaufen. Vielleicht auch nicht.
Aber was sicher ist: Ich war da. Ich habe gelebt. Ich habe geschrieben. Und das ist genug für heute.