Von Erinnerungen, die plötzlich auftauchen

Seit letztem Jahr schreibe ich ja an meiner, wie ich sie nun stolz nenne: Autobiografie. Und immer, wenn ich denke, nun ist sie fertig, passiert es wieder: Ich wache auf – und da ist plötzlich ein Gedanke, ein Bild, eine Erinnerung, die  bisher fehlt. Manchmal klein. Manchmal unerwartet. Und immer in einer seltsamen Klarheit, als hätte mein Inneres über Nacht still weitergearbeitet. Das scheint ganz normal zu sein und ein Zeichen dafür, dass ich mitten im Prozess bin. Warum das so ist:
Das Gedächtnis ist kein Archiv, sondern ein lebendiger Organismus.
Erinnerungen sind nicht einfach abgelegt wie in einem Aktenkoffer. Sie werden immer wieder neu zusammengesetzt – besonders dann, wenn man sich bewusst mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt. Das Schreiben wirkt wie ein Katalysator: Es öffnet Fenster, legt Spuren frei, stellt Querverbindungen her. Und oft ist der Morgen, dieser halb wache, ungefilterte Moment, genau die Stunde, in der sie auftauchen.
Das Unbewusste arbeitet mit.
Auch im Schlaf, im Traum, im Dösen. Was ich gestern aufgeschrieben habe, hallt nach – und etwas in mir prüft, was noch fehlt. Nicht mit Logik, sondern mit einem tieferliegenden Sinn. Ich wache mit Impulsen auf, weil mein Inneres weitergearbeitet hat.
Der Text ruft seine fehlenden Teile herbei.
Ein unvollständiger Text will vollständig werden. Wie ein Mosaik, das seine Lücken spürt. Jeder fertige Abschnitt macht das Ungesagte sichtbarer. Und plötzlich melden sich scheinbar nebensächliche Erinnerungen: ein Geruch, eine Geste, eine Straße – und sie beginnen zu sprechen.
Die eigene Identität ist nicht statisch – sie schreibt sich fort.
Autobiografisches Schreiben ist keine bloße Rückschau, sondern ein fortlaufender Selbstabgleich. Was ich heute erinnere, verändert mein Bild von damals – und umgekehrt.

Ich vertraue dem Prozess.
Nicht jede Erinnerung muss sofort in den Text. Ich notiere sie – manchmal nur fragmentarisch – und lasse sie ruhen. Vielleicht wird daraus später ein eigenes Kapitel. Vielleicht bleibt es ein Fundstück. Ich frage nicht sofort nach Relevanz.
Was mir heute belanglos erscheint, kann morgen ein Schlüssel werden. Manches braucht Zeit, um Bedeutung zu zeigen. 
Dass ständig neue Erinnerungen auftauchen, ist ein Geschenk – aber auch fordernd.

Erinnerung ist lebendig. Und Schreiben ist ein Gespräch mit ihr.

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