Am 5. Mai habe ich darüber geschrieben was Neurodivergenz für mich bedeutet. Neurodivergenz bedeutet:
Eine andere Art, in der Welt zu sein.
Nicht schlechter. Nicht besser.
Nur anders verdrahtet.
Ich näherte mich dem Themenkomplex nicht mit der Absicht, mich zu kategorisieren – sondern um mich tiefer zu verstehen. Heute beschreibe ich wie dieser angestoßene Erkenntnisprozess sich täglich fortsetzt, denn wenn in meinem Leben, meinem Alltag etwas passiert, frage ich: „Was will mir dieses Ereignis sagen?“
So bin ich. So lebe ich. So denke ich. Ich suche immer nach einem Sinn! Die Frage nach dem „Warum“ hilft mir nicht verrückt zu werden und meine Würde zu behalten.
- Was bedeutet das?
- Was will es mir sagen?
- Wofür ist es gut?
- Wohin führt es mich?
Das reiht sich ein in die immer wieder auftauchende Frage: „Wer bin ich?“ Es geht mir also darum, mich selbst zu erkennen und das innere Chaos ein wenig zu ordnen. Und weil es mir nun – nach Wochen im Bett – endlich besser geht, habe ich auch angefangen, die Ereignisse der letzten Wochen zu hinterfragen. Was ist die tiefere Bedeutung dessen, dass ich den ganzen April bewegungslos war? Dass ich meine Selbstbestimmung verlor? Dass Begriffe wie „Pflegefall“ und „Altenheim“ in meinem Kopf kreisten?
Als das Thema Neurodivergenz aufploppte wurde ich neugierig. Ich bin Legasthenikerin – das wusste ich, das gehört auch zu diesem Themenkomplex: Neurodivergenz und umfasst unterschiedliche neurologische Varianten, z. B. ADHS, Autismus, Hochsensibilität, Legasthenie, Dyskalkulie, Tourette-Syndrom u.v.m. Es geht dabei nicht um eine einzelne „Störung“, sondern um ein komplexes Spektrum von Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen und ich hatte keine Hemmung, mich näher damit zu beschäftigen. Bei meinen Recherchen erkannte ich dann das ich auch hochsensibel bin. Doch das ist offensichtlich noch nicht alles, denn jetzt sehe ich auch ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und ich beginne zu begreifen.
ADHS ist als hätte mein Gehirn ein anderes Betriebssystem – mit mehr Tabs, mehr Ideen, mehr Energie – aber auch mit mehr Erschöpfung. Und in der weiteren Beschreibungen fühlte ich: Das bin ich.
✔️ Ich kann mich stundenlang konzentrieren, wenn mich etwas interessiert.
✔️ Aber wenn es mich langweilt oder fremdbestimmt ist, bin ich sofort weg.
✔️ Ich spreche, bevor ich denke.
✔️ Ich handle, bevor ich abwäge.
✔️ Mein Kopf ist ein Karussell aus Ideen, Plänen, Erinnerungen, Möglichkeiten.
✔️ Ich reagiere intensiv – emotional, körperlich, gedanklich.
✔️ Meine Energie ist oft hoch, aber nicht immer gerichtet.
✔️ Und ich war oft so erschöpft, dass ich mich selbst kaum noch spürte.
Und was habe ich all die Jahre daraus gemacht?
„Ich bin chaotisch.“
„Ich bin faul.“
„Ich bin nicht belastbar.“
„Ich muss mich einfach mehr zusammenreißen.“
Heute werde ich langsam akzeptieren: Das war kein Charakterfehler. Das war mein Energiesystem – das nicht zu den Erwartungen passte.
ADHS ist kein Mangel an Disziplin. Es braucht keine „Heilung“. Es braucht Verständnis, Struktur – und Raum für Anderssein.
Vielleicht…
-
ist mein ständiges Denken kein Laster, sondern Zeichen meines wachen Geistes.
-
ist mein Bedürfnis nach Neuem kein Sprunghaftsein, sondern kreative Intelligenz.
-
ist meine Reizüberflutung kein Makel, sondern Ausdruck meiner Feinfühligkeit.
Das alles will verarbeitet werden. Und mittendrin tauchte eine einfache Übung auf: Ich solle meinen Kopf in beide Hände legen. Das beruhige mein autonomes Nervensystem. Ich musste lächeln, denn ich erinnere mich, dass ich das schon lange mache und nie verstand warum. Wenn ich im Bett liege, lege ich oft meine Hände um meinen Kopf. Jetzt wird mir klar:
Mein Körper wusste es längst.
Diese Geste war gelebte Selbstregulation.
Eine kluge, intuitive Antwort auf Überforderung.
Ein Zeichen meiner inneren Intelligenz.
Ich schreibe diesen Text in der Hoffnung, dass er jemandem begegnet, der oder die gerade beginnt, sich selbst neu zu erkennen. Vielleicht auch erst nach Krankheit, Krise, Rückzug. So wie ich. Ich bin noch unterwegs. Aber ich habe einen ersten Schritt gemacht.
Und der heißt:
Mich nicht länger gegen mich selbst richten.

Selbstporträt, August 2023
Ich habe mich nie so gesehen, wie ich wirklich war.
Mein Ich war immer verborgen.
Nicht, weil ich mich verstecken wollte –
sondern weil ich mich selbst nicht ganz greifen konnte.
Zu viele Rollen. Zu viele Spiegel.
Zu viel Anpassung, zu wenig Inneres im Außen.
Dieses Bild zeigt mich –
nicht wie ich aussehe,
sondern wie es sich anfühlt, in mir zu wohnen.
Schwer. Und klar. Und da.
Es wirkt wie eine Skulptur aus Stoff und Schatten, und doch pulsiert darin etwas Lebendiges – spürbar, nicht sichtbar.
Es hat eine Präsenz wie ein Ritualbild: Verhüllung als Ausdruck, nicht als Versteck. Es ist kein Schwarz des Verschwindens, sondern eines der Reifung. Wie Erde. Wie Nacht. Wie das Innere einer Höhle.
Ich habe unzählige Male gefragt: Wer bin ich?
Nicht weil ich mich wichtig nehmen wollte – sondern weil ich mich nicht finden konnte. Ich spürte, dass das Bild, das ich von mir hatte, nicht vollständig war. Jetzt beginne ich zu verstehen: Ich habe gefragt, weil ein Teil von mir wusste, dass mehr da ist. Zu vieles hatte ich mir nicht erlaubt zu sehen. Zu vieles wurde nicht gespiegelt.
Doch ich höre nicht auf zu fragen – aber die Antworten fühlen sich anders an. Sie kommen nicht mehr von außen. Sie wachsen in mir.