75 Jahre Leben. Am 1. Juni ist diese Zahl plötzlich meine.

75 – eine Zahl, die mich selbst erstaunt. Was bedeutet sie?

  • Ein stolzes Alter?
  • Ein bewegtes Leben?

Auf jeden Fall erschrecke ich innerlich, wenn ich diese Zahl auch nur denke.
Das ist nicht nur eine Zahl – das bin ich.
Eine ganze Geschichte: Entscheidungen, Krisen, Liebe, Lernen und Wiederaufstehen. Auch wenn ich inzwischen gerne zurückschaue und auch stolz auf das bin, was ich geschafft habe – ist diese Zahl gewaltig – oder? Was ich jedoch auch denke, ist: Es ist nicht das Ende. Es geht weiter.

2019 habe ich den Krebs überwunden, doch das, was am 31. März 2025 passierte, hat meine Welt doch ziemlich erschüttert.

Ein Sturz. Banal. Und doch heftig. Von einem Moment auf den anderen war Bewegung nicht mehr selbstverständlich. Wochenlang war ich ausschließlich in der Wohnung und zweimal im Krankenhaus. Keine Spaziergänge. Kein Einkaufen. Keine Muckibude. Nur mein Körper, mein Schmerz, mein Heizkissen – und ich. In dieser Zeit hätte ich fast den Mut verloren. Und da war ein Gefühl von:
Es wird nie wieder so wie zuvor„.
OK, seit Heraklit wissen wir: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ 

Dieser Satz verweist auf die beständige Veränderung aller Dinge – das Fließen des Lebens, das Unaufhaltsame des Werdens und Vergehens. Der Fluss ist nie derselbe, weil das Wasser, in das du beim zweiten Mal steigst, anders ist. Aber auch du bist nicht mehr dieselbe – selbst wenn du am gleichen Ort stehst. Der Satz ist kein melancholischer Abgesang, sondern eine Ermutigung zur Lebendigkeit. Wenn alles fließt, dann fließt auch die Krise weiter. Auch die Angst. Auch der Schmerz. Es ist ein Bild für die Unwiederholbarkeit des Moments, für das, was uns entwischen will, sobald wir es festhalten wollen. Und zugleich eine Erinnerung daran, dass nichts stillsteht: kein Gefühl, kein Zustand, keine Beziehung, kein Körper, kein Schmerz – aber auch kein Glück. Ich hatte viel Zeit, konnte über alles nachdenken.

Und dann kam eine neue Erkenntnis – eine, die vieles erklärte: Ich bin neurodivergent.

Dass ich Legasthenikerin bin, habe ich erst im letzten Drittel meiner 75 Jahre erfahren. Und jetzt das: Ich bin auch hochsensibel und lebe Anteile von ADHS. Es war wie ein Puzzle, das sich plötzlich fügte:

  • Meine Reizempfindlichkeit

  • Meine Art zu denken

  • Mein intensives Spüren

  • Meine Erschöpfung nach Dingen, die andere scheinbar mühelos wegstecken

Es ist keine Schwäche. Es ist meine Art, die Welt zu verarbeiten. Und das zu wissen, hat mich endlich milder gemacht mit mir selbst.

Heute stehe ich hier.

75 Jahre alt.
Und viel näher bei mir.

Was ich in diesen 75 Jahren gelernt habe?

  • Dass man sich auch mit 74 noch verändern kann.

  • Dass Gesundheit kein Zustand ist – sondern ein Weg.

  • Dass Liebe nie verloren geht – nur manchmal verdeckt wird.

  • Und dass ich heute nicht perfekt bin – aber verdammt lebendig.

Ich bin eine Frau, gezeichnet von Jahren, geformt von Entscheidungen.
Mein Körper trägt die Spuren des Lebens – Falten, die vom Lachen und vom Loslassen erzählen,
Narben, die nicht schwächen, sondern erinnern:
Ich bin noch da.
Ich bin noch hier.

Meine Haut, einst glatt, zeigt sich nun durchlässiger – für das Licht. Für das Leben.

Ich lebe in einem Körper, der sich wehrt und heilt, der mir Signale sendet, wie Rauchzeichen einer alten Seele:
Und ich höre.
Nicht immer gleich. Nicht ohne Widerstand.
Aber ich bleibe im Gespräch mit mir.

Ich frage nach der Wirkung von Pflanzen und Molekülen, nicht aus Hoffnung auf ein Wundermittel – sondern aus Verantwortung, aus Liebe zu diesem Körper, der mich all die Jahre getragen hat.

Ich sehe mich selbst im Spiegel – manchmal fremd, manchmal wunderbar vertraut.
Ich sehe die, die ich geworden bin: Nicht glatt. Nicht fertig. Nicht gefällig.
Sondern lebendig. Wahr.
Und immer wieder bereit, neu zu beginnen.

Ich spreche leise mit meinem Schmerz, verhandle mit meiner Müdigkeit, und öffne mich für das, was heilt: ein warmer Wickel. Ein ehrliches Wort.
Ein Blick, der bleibt.

Ich bin die, die nicht wegsieht.
Nicht bei sich. Nicht beim Leben.
Ich bin die, die schreibt, weil sie fühlt.
Die fragt, weil sie lebt.

Die liebt, weil sie weiß:
Mit 75 schreibt man keine Fußnoten – sondern neue Kapitel.

logo

Melden Sie sich hier zu meinem Newsletter an und bleiben Sie informiert.

You have Successfully Subscribed!