Warum wir neu darüber sprechen müssen, was ein Bild ist

In einem Podcast hörte ich kürzlich die Frage: „Sind KI-generierte Bilder eigentlich Fotografien?“ Die Diskussion war gut gemeint, doch sie zeigte vor allem eines: wie schnell Begriffe verschwimmen, wenn technische Ähnlichkeiten für inhaltliche Gleichheit gehalten werden. Dabei ist die Unterscheidung einfach – und zugleich grundlegend.

Fotografie: eine Spur der Wirklichkeit

Fotografie beginnt dort, wo Licht auf ein Medium trifft. Ein physikalischer Vorgang, der eine Spur hinterlässt: Negativ. Sensorpixel. Kontaktbogen. Fotografie ist nicht der Stil eines Bildes, sondern seine Entstehungsweise. Und Fotografie ist immer subjektiv. Die einzige echte Objektivität liegt im Objektiv – in diesem Stück Glas vor der Kamera. Alles andere ist Entscheidung: Standpunkt, Blick, Nähe, Distanz, Haltung. Doch Fotografien knüpfen an etwas an, das tief in unserem Sehen verankert ist: Sie haben immer einen Bezug zur Realität. Selbst inszenierte Szenen, Schatten, Körper, Licht – sie existieren oder existierten in der Welt. Darum entsteht beim Betrachten einer Fotografie die Realitätsvermutung: Der erste Impuls ist Vertrauen, nicht Misstrauen.

Promptografie: ein neues Wort für eine andere Praxis

Borisris Eldagsen hat für KI-Bilder den Begriff Promptografie geprägt. Er trifft das Wesentliche: Während die Fotografie mit Licht schreibt, schreiben KI-Modelle mit Sprache. Statt Welt gibt es Daten. Statt Moment gibt es Wahrscheinlichkeiten. Statt Szene gibt es eine textbasierte Beschreibung, die zu einem Bild berechnet wird. Ein KI-Bild kann aussehen wie eine Fotografie – aber es ist keine. Es ist eine Simulation fotografischer Ästhetik, gespeist aus Milliarden Bildern, aber ohne einen einzigen Atemzug Wirklichkeit.

Wenn die Realität ins Rutschen kommt

Was gerade geschieht, stellt unsere gewohnten Kategorien auf den Kopf. Wir begegnen Bildern, die täuschend echt wirken, ohne eine Wirklichkeit zu haben. Damit verschiebt sich nicht nur ein technischer Standard, sondern ein kulturelles Fundament: Die Frage, was wir für glaubwürdig halten. Doch der Mechanismus dahinter ist nicht neu – nur schneller.

Als die Fotografie die Malerei erschütterte

Als die Fotografie im 19. Jahrhundert entstand, verlor die Malerei ihre Rolle als Dienstleistung. Sie wurde nicht mehr gebraucht, um die Welt abzubilden. Dieser Verlust war eine Befreiung. Die Malerei konnte sich auf das besinnen, was sie im Kern ist: Farbe, Geste, Fläche, Vorstellung. Ein ähnlicher Umbruch geschieht jetzt mit dem, was wir bislang Fotografie nannten.

Bearbeitung gab es immer – doch sie setzte Wissen voraus

Auch zu analogen Zeiten gab es Retusche, Maskierung, Abwedeln, Nachbelichten. Ein Print war selten „pur“ – er war ein Dialog zwischen Licht und Erfahrung. Dieses Handwerk verlangte Wissen. Es verlangte Nächte im Labor, Materialkenntnis, Geduld, Entscheidungen im Dunkeln. Mit der digitalen Fotografie wurde vieles schneller. Ein Klick ersetzte Abläufe, die früher Stunden brauchten. Eine Kamera und ein Rechner machten plötzlich viele zu Fotograf:innen – zumindest dem Anschein nach. Was früher ein Handwerk mit Hürden war, wurde zur offenen Wiese. Und auf dieser Wiese wuchs – ich sage es bewusst provokant – auch eine große Zahl sich selbst überschätzender Dilettanten. Nicht, weil ihnen Talent fehlte, sondern weil das Medium selbst seine Schwelle verlor. Ein gutes Bild wurde mit einem gefälligen Bild verwechselt. Und Haltung geriet ins Rutschen.

Was die KI der angewandten Fotografie nehmen wird

Viele Bereiche der kommerziellen Fotografie – Packshots, illustrative Motive, Produktinszenierungen – werden zunehmend durch KI ersetzt werden. Die ökonomische Logik ist unbarmherzig. Doch genau darin liegt eine Chance: Die Fotografie kann sich auf ihren Kern zurückbesinnen. Auf Wirklichkeit. Auf Begegnung. Auf den Blick. Auf das Schreiben mit Licht.

Fotografie braucht Haltung

Haltung ist kein abstrakter Wert. Sie entsteht aus Biografie: aus Entscheidungen, Verletzungen, Nähe, Distanz, Irrtum, Mitgefühl. Haltung zeigt sich darin, wie man einen Raum betritt, wie man einem Menschen begegnet, wie man Verantwortung übernimmt für das, was sichtbar wird. Haltung zu wem? Zur Person vor der Kamera. Zur eigenen Wahrheit. Zur Wirklichkeit, die man auswählt. Zum eigenen Blick. Und zu sich selbst. Eine fotografische Haltung ist immer ein Beziehungsraum. Es ist nicht die Technik, die sie prägt, sondern das Leben.

Ein Gegenentwurf zur Beliebigkeit

Vielleicht liegt die Bedeutung der Fotografie heute nicht mehr darin, Wirklichkeit abzubilden – das können Maschinen längst besser simulieren. Ihre Bedeutung liegt darin, der Beliebigkeit etwas entgegenzustellen: die Spur einer Entscheidung, den Abdruck eines Moments, eine Form von Aufmerksamkeit, die aus einem Leben kommt und nicht aus einem Datensatz. Eine Fotografie ist kein Dekor. Sie ist eine Setzung. Sie sagt: Hier stand ich. Hier war etwas. Hier wurde gesehen. In einer Zeit, in der Bilder unendlich und austauschbar geworden sind, wird gerade diese Endlichkeit – der konkrete Moment, die konkrete Beziehung – zu einem Wert. Ein Gegenentwurf zur ästhetischen Unverbindlichkeit künstlich erzeugter Welten.

Und eine Selbstvergewisserung in einer Welt, die sich neu sortiert

Fotografie wird in diesem Sinne zu einer Selbstvergewisserung: nicht als Selbstbehauptung, sondern als Ort, an dem ich prüfen kann, wer ich war, wer ich heute bin und welcher Blick mir wirklich gehört. Die Welt sortiert sich gerade neu – technologisch, kulturell, ästhetisch. Vieles, was lange selbstverständlich war, gerät ins Rutschen. Sicherheiten lösen sich auf, Bilder strömen, und Wahrheiten werden zu Optionen. In dieser Bewegung wird mein Archiv zu einem inneren Koordinatensystem. Es zeigt, welche Werte mich damals getragen haben, und welche ich heute vielleicht wieder brauche. Es zeigt, dass Haltung nicht aus Theorien entsteht, sondern aus Entscheidungen, Begegnungen, Verletzlichkeiten. Aus dem Mut, wirklich hinzusehen – auch dann, wenn das Sehen wehgetan hat. Vielleicht ist das der eigentliche Gegenpol zur KI: nicht analog gegen digital, nicht Licht gegen Pixel, sondern gelebte Erfahrung gegen generierte Wahrscheinlichkeit.

Warum ich in mein Archiv zurückkehre

Ich weiß momentan selbst nicht, wie sich Fotografie weiter verändern wird.
Aber ich weiß, dass meine Antworten nicht in den Serverräumen dieser Welt liegen, sondern in den Spuren meines eigenen Blicks. Darum gehe ich in mein Archiv. Nicht, um mich zu beruhigen. Nicht, um mich an Vergangenes zu klammern. Sondern weil dort etwas liegt, das sich nicht simulieren lässt:
ein gelebtes Verhältnis zur Wirklichkeit.
Jedes Negativ ist ein Gespräch mit einem Moment. Jeder Kontaktbogen ist eine sichtbare Denkbewegung. Jeder Print erzählt von Nähe, Risiko und Verantwortung. In diesen Bildern erkenne ich, wie ich zu der wurde, die ich bin. Welche Werte mich geformt haben. Was mir wichtig war. Und was mir weiterhin wichtig bleibt.

Ich schaue in meine eigenen Fotografien, um mich daran zu erinnern, wie es einmal war, mit einer Kamera die Wirklichkeit zu betreten – und sich von ihr verändern zu lassen. Vielleicht beginnt die Zukunft der Fotografie genau dort: in der Rückkehr zur Verantwortung des Sehens, in der Tiefe eines gelebten Blicks, im Wert eines Lebens, das über Jahrzehnte hinweg gelernt hat, dass ein Bild erst Bedeutung bekommt, wenn es aus einem wachen Inneren entsteht.

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